„Das Spektrum in der ambulanten Praxis ist anders als in der Klinik“

Für Radiologen aus Kliniken und ihre Kollegen aus den Praxen ergeben sich hin und wieder Spannungsfelder. Prof. Dr. Stephan Miller, Facharzt für Radiologie, kennt beide Seiten. Bis 2010 war er Oberarzt und stellvertretender ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Tübingen. Anschließend ließ er sich in der radiologischen Gemeinschaftspraxis Tübingen nieder. Er will den Erfahrungsaustausch zwischen niedergelassenen und Klinik-Radiologen fördern und ist Mitbegründer des Forums Niedergelassener Radiologen in der DRG (FuNRad). Darüber sprach er mit Ursula Katthöfer ( textwiese.com ).

Redaktion: Was wäre ein typischer Fall, in dem ein niedergelassener Radiologe sich von einem Kollegen aus der Klinik missverstanden fühlt?

Prof. Dr. Stephan Miller: Ich war in der Klinik u. a. für die Abteilung Chirurgie zuständig. Daher kenne ich folgenden Fall sehr gut: Bei einem Tumor an der Bauchspeicheldrüse möchte der Chirurg wissen, wo der Tumor liegt, wie weit er fortgeschritten ist. Es geht um die Entscheidung, ob der Befund operabel ist. Geht aus der Diagnostik keine Antwort auf diese Frage hervor, entsteht schnell eine falsche Schlussfolgerung: Wer hat das denn gemacht? Hat die Person keine Ahnung?

Redaktion: Und? Hat der niedergelassene Kollege keine Ahnung?

Prof. Dr. Stephan Miller: Nein, im Gegenteil. Als ich hier in der Praxis anfing, war ich von der Präzision und der Organisation der Arbeit unglaublich beeindruckt. Doch den ambulant tätigen Radiologen stellen sich ganz andere Fragen als den Kollegen im Krankenhaus. Sie wissen ja noch nicht, warum der Patient zu ihnen kommt. Ich habe erst heute Morgen bei uns am Empfang einen Mann erlebt, der von seinem Hausarzt geschickt wurde und nicht wusste, mit welcher Verdachtsdiagnose er untersucht werden sollte. Ohne genaue Fragestellung kann der Radiologe mit einer Untersuchung keine genauen Antworten herausarbeiten. Missverständnisse entstehen daher z. B. aus Mangel an Informationen. Die Radiologen in den Krankenhäusern wissen selten, wie der Alltag in einer Praxis aussieht. Schon die Zahl der Fälle liegt viel höher als im Krankenhaus. Wir erfassen mit unserer Bildgebung sehr viel. Doch unsere Diagnostik ist vielleicht nicht immer so speziell, wie z. B. ein Chirurg sie für die OP-Planung bräuchte.

Redaktion: Und umgekehrt: Wo fühlt sich der Radiologe aus der Klinik falsch verstanden?

Prof. Dr. Stephan Miller: Ich glaube, dass das seltener vorkommt. Denn die meisten niedergelassenen Radiologen kennen die Abläufe in den Kliniken ja aus der Facharztausbildung.

Redaktion: Nun gibt es in allen Fachdisziplinen Kollegen in Praxis und Klinik. Ist der gegenseitige Argwohn bei den Radiologen größer als bei anderen Fachärzten?

Prof. Dr. Stephan Miller: Als Radiologe höre ich in klinischen Besprechungen mit anderen Fächern so manchen Kommentar. Manchmal verrät der Tonfall unterschwellige Kritik. Doch in den klinischen Fächern sind die niedergelassenen Kollegen ja die Zuweiser. Ein Chefarzt im Krankenhaus wird sich tunlichst zurückhalten, über niedergelassene Kollegen zu schimpfen, die der Klinik jeden Tag Patienten schicken. In der Radiologie könnte die Hemmschwelle niedriger sein. Doch ich will keinen falschen Eindruck erwecken. So groß sind die Spannungsfelder nach meiner Erfahrung auch nicht.

Redaktion: Sie gründeten 2017 mit weiteren Kollegen in der DRG die Arbeitsgruppe FuNRad, deren Vorsitzender Sie sind. Was ist das Ziel?

Prof. Dr. Stephan Miller: Wir möchten, dass die DRG Themen der niedergelassenen Radiologen aufnimmt und bearbeitet. Es sind sehr viele Radiologen in die ambulante Praxis gegangen, die lange wissenschaftlich an Universitätskliniken gearbeitet haben. Unter wissenschaftlich geprägtem Blick stellt man schnell fest, dass es eine Menge unbearbeiteter Themen in diesem Bereich gibt. Die DRG stellt die akademische Vereinigung der Radiologie in Deutschland dar. In der DRG geht es u. a. um Fortbildung, das Erstellen von Leitlinien, Zertifizierungen etc. Bisher war unsere Fachgesellschaft sehr von den Kollegen aus den Krankenhäusern geprägt. Wir wollen auch die Niedergelassenen mitnehmen. FuNRad widmet sich daher z. B. der gezielten Fortbildung für die Praxis, der Vernetzung zwischen Krankenhaus und Praxis sowie Workflow-Themen.

Redaktion: Gibt es eine Schnittmenge zum BDR?

Prof. Dr. Stephan Miller: In inhaltlichen Dingen ja, berufspolitisch nein. Das ist klar getrennt. Wir haben z. B. die Abrechnungsempfehlungen für die Herzbildgebung gemeinsam erstellt, da sie beides betrifft: eine inhaltliche Begründung und die sachlich fundierte Abrechnung auf GOÄ-Basis. Das hat gut geklappt. Unser Ziel ist es, als eine Fachgruppe aufzutreten, sowohl in der DRG als auch im Schulterschluss mit dem BDR.

Redaktion: Sie sprechen von der Fortbildung. Um welche Inhalte geht es?

Prof. Dr. Stephan Miller: Das Spektrum in der ambulanten Praxis ist anders als in der Klinik. Es gibt eine Reihe von Erkrankungen, die ambulant diagnostiziert und therapiert werden und daher in der Klinik nie vorkommen. Das betrifft u. a. die Neurodiagnostik, muskuloskelettale Medizin oder auch Lungenerkrankungen. FuNRad ist es daher wichtig, den Radiologen, die aus der Klinik in die Praxis kommen, nach dem Paretoprinzip z. B. die wichtigsten Diagnosen am Kniegelenk oder an der Wirbelsäule zu vermitteln.

Redaktion: Was können beide Seiten jeweils voneinander lernen?

Prof. Dr. Stephan Miller: Der Radiologe im Krankenhaus kann die behandelnden Kollegen sehr genau mit Informationen versorgen, von denen die Therapie abhängt. Bei vielen interdisziplinären Veranstaltungen und unterschiedlichsten Boards ist die Radiologie beteiligt. Das ist in der Niederlassung komplett anders. In diesem Setting sind die Kollegen noch auf der Suche nach dem Befund. Der Austausch mit anderen Fachdisziplinen ist leider gering. Wenn dieser Umstand allen klar ist, dann haben wir schon viel voneinander gelernt. Beide Seiten gehören zum Fachgebiet der Radiologie und wir sind eine Gemeinschaft.

Redaktion: Wie groß ist die Bereitschaft, sich auszutauschen?

Prof. Dr. Stephan Miller: Seitdem es FuNRad gibt, kommen kontinuierlich neue Mitglieder dazu. Beim Deutschen Röntgenkongress waren wir nun im dritten Jahr dabei. Die Teilnehmerquoten bei unseren Sitzungen und Vorträgen sind hoch.

Redaktion: Wer kommt? Chefärzte? Assistenten?

Prof. Dr. Stephan Miller: Es beginnt bei den fortgeschrittenen Kollegen in der Weiterbildung. Sie überlegen, wie es für sie weitergeht. Auch Fachärzte aus Kliniken und Praxen kommen. Chefärzte sehen wir seltener. Sie haben ganz andere Themen als die Aspekte einer Praxis. Allerdings beteiligt der FuNRad-Vorstand satzungsgemäß auch Chefärzte. Denn es ist uns wichtig, Verständnis füreinander zu schaffen und gut zusammenzuarbeiten. Dafür brauchen wir den Input beider Seiten.

Redaktion: Würden Sie auch Hospitationen befürworten?

Prof. Dr. Stephan Miller: Eine Hospitation ist zu wenig. Wir brauchen eher eine Rotation, damit Kollegen aus der Klinik sich das ambulante Spektrum aneignen können, z. B. mal in einer Woche 100 MRT-Untersuchungen des Kniegelenks sehen. So hat man i. d. R. rasch die meisten relevanten Pathologien kennengelernt. Insbesondere bei der Mammografie sind Rotationen sinnvoll und bereits etabliert, da Mammografie in manchen Kliniken nicht angeboten wird. Es gibt also durchaus Raum für einen Wechsel über die eigenen Grenzen hinaus. Das sollte man ausbauen.

Redaktion: Wie können Radiologen an FuNRad teilnehmen?

Prof. Dr. Stephan Miller: Wer Mitglied in der DRG oder im BDR ist, kann kostenfrei teilnehmen. Übrigens haben wir viel zu wenig Kolleginnen unter den Mitgliedern. Die Feminisierung der Medizin findet auf allen Ebenen statt und die Anforderungen bzw. Möglichkeiten sind in der Praxis ganz anders als in einer Klinik. Da wäre es wichtig, dass gerade Kolleginnen sich bei FuNRad einbringen.

Weiterführender Hinweis

  • FuNRad: Informationen und Antragsformulare online unter funrad.drg.de