BGH: Auch Anästhesist muss auf Röntgenaufnahmen achten!

von Rechtsanwalt Rainer Hellweg, Kanzlei Schroeder-Printzen, Kaufmann & Kollegen, Hannover, www.spkt.de

Mit Urteil vom 21. Dezember 2010 (Az: VI ZR 284/09) hat der Bundes­gerichtshof (BGH) entschieden, dass auch Ärzte anderer Fachgruppen außer der Radiologie die Augen vor Zufallsbefunden auf Röntgenaufnahmen nicht verschließen dürfen. Insofern kommt eine Haftung wegen Diagnosefehler auch über die eigenen ärztlichen Fachbereiche hinaus in Betracht.

Der Fall

In dem vom BGH entschiedenen Fall ging es um einen Anästhesisten, der eine Röntgenaufnahme in Vorbereitung einer Meniskusoperation für die Anästhesie benutzt hatte. Die Aufnahme war in einer vom Krankenhaus betriebenen radiologischen Praxis hergestellt und ohne Auswertung an den Anästhesisten übermittelt worden. Dieser wertete die Aufnahme aus und stellte keine der Anästhesie entgegenstehenden Umstände fest. Dabei bemerkte er eine etwa 2 cm große rundliche Verdichtungszone rechts supradiaphragmal nicht. Aufgrund der unterlassenen Befundung wurde die Behandlung des letztlich zum Tode führenden Lungenkarzinoms um mehr als ein Jahr verzögert.

Die Entscheidung

Der BGH kam zu dem Schluss, dass angesichts einer derartigen Auffälligkeit auf dem Röntgenbild möglicherweise auch der Anästhesist den Lungenkarzinomverdacht hätte erkennen müssen. Das Urteil der Vorinstanz des Oberlandesgerichts (OLG) Brandenburg wurde daher aufgehoben und der Rechtsstreit zur abschließenden Sachverhaltsaufklärung an das OLG Brandenburg zurückverwiesen.

In den Urteilsgründen stellte der BGH klar: Auch bei solchen Untersuchungen, die medizinisch nicht unbedingt erforderlich sind, aber trotzdem zum Beispiel aus besonderer Vorsicht veranlasst werden, besteht eine Verpflichtung, bei Auffälligkeiten weitere diagnostische Maßnahmen zu veranlassen. Dies gelte auch über den eigenen ärztlichen Fachbereich hinaus, wobei dann bei der Beurteilung eines möglichen Behandlungsfehlers die im eigenen Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten als juristischer Maßstab anzulegen seien.

Falls der Anästhesist auch nach seinem „Kurzblick“ die Auffälligkeit hätte erkennen müssen, könne auch er für einen Diagnosefehler im Hinblick auf eine Röntgenaufnahme zur Haftung herangezogen werden. Auch andere Fachgruppen als die Radiologen dürften bei offensichtlich erkennbaren Befunden auf radiologischen Aufnahmen nicht die Augen verschließen.

Keine automatische Haftungsentlastung für Radiologen

Dies entlastet jedoch die Radiologen nicht von eigener Haftung. Grundsätzlich sind sowohl Auftraggeber als auch Radiologe dazu verpflichtet, bei auffälligen Befunden für die Einleitung weiterer erforderlicher diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen zu sorgen.

Der Radiologe ist zudem verpflichtet, anhand der ihm bekannten Informationen und nach den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten den Untersuchungsauftrag sorgfältig zu prüfen. Bei Bedenken oder bei einem abklärungsbedürftigen Befund auch außerhalb des Auftrags muss er zumindest Rücksprache mit dem Auftraggeber bzw. behandelnden Arzt des Patienten halten.

Praxistipp

Der Radiologe sollte auf eine möglichst genaue Abstimmung und lückenlose Kommunikation mit dem Auftraggeber achten. Gerade an der Schnittstelle zwischen Auftraggeber und Radiologen kann es zu haftungsträchtigen Abstimmungsfehlern kommen, die es für beide Seiten zu vermeiden gilt. Auch wenn dies im hektischen Krankenhausalltag bisweilen schwer einzuhalten ist, gilt es, telefonische Absprachen oder Mitteilungen an den Auftraggeber oder Überweiser in den Behandlungsunterlagen schriftlich zu dokumentieren. So kann im Falle eines späteren Haftungsprozesses der Entlastungsbeweis geführt werden.