Beweislastumkehr bei einfachen Befunderhebungsfehlern

von Norman Langhoff, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, RöverBrönner, Berlin, www.roeverbroenner.de

Die Radiologie ist ein wichtiges Bindeglied zu den klinischen Fachgebieten und somit von übergeordneter Bedeutung für viele Behandlungen und Behandlungsfortgänge. Entsprechend prominent sind daher jedoch auch die Auswirkungen bei Irrtümern oder Versäumnissen bei der Befunderhebung. In seinem Urteil vom 7. Juni 2011 (Az: VI ZR 87/10) äußert sich der Bundesgerichtshof (BGH) dezidiert zu Befunderhebungsversäumnissen und wie sich diese im Haftungsprozess zugunsten des Patienten auswirken können.

Grundsätze zur Beweislastumkehr

Der Erfolg einer gegen den behandelnden Arzt erhobenen Klage hängt entscheidend von der Beweislastverteilung ab. Grundsätzlich hat der Patient Behandlungsfehler und dessen Ursächlichkeit für den entstandenen Gesundheitsschaden zu beweisen. Wird allerdings eine Beweislastumkehr angenommen, hat der Arzt zu beweisen, dass die Schädigung nicht auf seinem Fehler beruht.

Voraussetzung ist hierfür zwar grundsätzlich, dass es sich um einen schweren Behandlungsfehler handelt. In seinem Urteil hat der BGH aber erneut spezifiziert, unter welchen Umständen bereits ein einfacher Behandlungsfehler zur Umkehr der Beweislast des Behandlungsfehlers vom Patienten auf den Arzt führen kann.

Der Fall

Eine Patientin wurde Ende Oktober 1998 notärztlich in tief somnolentem Zustand stationär eingewiesen. Nach Durchführung einer Computertomographie und einer Liquordiagnostik wurde sie mit der Diagnose eines psychogenen bzw. depressiven Stupors zwei Tage nach Aufnahme in eine psychiatrische Einrichtung verlegt und blieb dort aufgrund ordnungsamtlicher Unterbringungsverfügung gut zwei Monate in stationärer Behandlung. Im März des Folgejahres wurde festgestellt, dass sie am Aufnahmetag einen embolischen Thalamusinfarkt erlitten hatte.

Die Frau leidet seitdem unter bleibenden Sprachbeeinträchtigungen und Schluckstörungen, die sie auf eine unzureichende ärztliche Behandlung zurückführt, weil die Einlieferungsdiagnose trotz dagegen sprechender Symptome nicht überprüft worden sei und deshalb eine mögliche frühzeitigere Behandlung des Infarkts unterblieben sei.

Das erstinstanzlich befasste Landgericht hat einen schweren Behandlungsfehler bejaht und der Klage teilweise stattgegeben; das Oberlandesgericht (OLG) hat auf Berufung der verklagten Klinik die Klage abgewiesen. Der BGH hat die Sache mit dem Hinweis, dass die Voraussetzungen eines einfachen, zur Beweislastumkehr führenden Befunderhebungsfehlers nicht hinreichend geprüft worden seien, zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das OLG zurückverwiesen.

Voraussetzungen der Beweis­lastumkehr

In seinem Urteil verweist der BGH darauf, dass eine Beweislast­umkehr auch bei einfach-fehlerhafter Befund­erhebung eintritt, wenn sich bei gebotener Abklärung der Symptome

  • mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte,
  • dass sich dessen (hypothetische!) Verkennung als grob fehlerhaft darstellen würde und
  • dieser Fehler generell geeignet ist, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen.

Dahinter steht die Erwägung, dass der Patient so gestellt werden soll, wie er stünde, wenn der Befund wie geboten erhoben und ordnungsgemäß gesichert worden wäre, tatsächlich aber die Auf­klärung des Behandlungs­geschehens durch die unzureichende Befunderhebung erschwert worden ist. Infolgedessen wird bereits bei einfachen Befunderhebungsfehlern eine Beweislast-
umkehr zugelassen, wenn und soweit ein Verstoß gegen die Befunderhebungs- und Sicherungspflicht mit hinreichender Sicherheit den Schluss erlaubt, dass sich ein reaktionspflichtiges Befundergebnis ergeben hätte.

Konsequenzen für Ärzte

Die Rechtsprechung des BGH zwingt zu gewissenhafter Befunderhebung unter Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Andererseits ist hierbei auch Augenmaß zu bewahren, denn eine Überdiagnostik kann ihrerseits einen Behandlungsfehler begründen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf eine etwaige übermäßige Strahlenbelastung im Zusammenhang mit radiologischer Diagnostik.

Außerdem gilt: Gebotene Befunde sind stets zu erheben. Werden diese – zunächst – falsch interpretiert, begründet dies noch keinen Behandlungsfehlervorwurf. Allerdings ist der behandelnde Arzt verpflichtet, seine erste („Arbeits-“)diagnose im weiteren Verlauf unter Erhebung weiterer Befunde kontinuierlich zu überprüfen und gegebenenfalls zu differenzieren.