Budgetwachstum auch bei Anstellung von Jungärzten in einer Radiologie-Einzelpraxis

von Rechtsanwältin, Fachanwältin für Medizinrecht Dr. Christina Thissen, Kanzlei Voß.Partner Medizinrecht, Münster, voss-medizinrecht.de

Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Wachstumsmöglichkeiten von Berufsausübungsgemeinschaften (BAG) und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) in der Aufbauphase auf die Anstellung von Jungärzten in Einzelpraxen übertragen. Ein Vertragsarzt kann für seine angestellten Vertragsärzte demnach in Einzelpraxis sowohl bei erstmaliger vertragsärztlicher Tätigkeit als auch bei Fortführung seiner vertragsärztlichen Tätigkeit nach einem Austritt aus einer BAG/einem MVZ für seine angestellten die Wachstumsprivilegien der Aufbauphase beanspruchen (Urteil vom 19.07.2023, Az. B 6 KA 22/22 R ).

Sachverhalt

Der Kläger war insgesamt sieben Jahre vertragsärztlich als Radiologe im Rahmen einer radiologischen BAG in Hamburg tätig. Ende des Jahres 2013 trat er aus der Praxis aus und ließ sich zum Quartal I/2014 mehrere Kilometer entfernt in einer Einzelpraxis im gleichen Planungsbereich mit vollem Versorgungsauftrag nieder. Er stellte einen jungen ärztlichen Kollegen mit ebenfalls vollem Versorgungsauftrag an. Seine Praxis verfügte also insgesamt über zwei volle Versorgungsaufträge.

Ab dem Quartal I/2013 hatte die KV Hamburg zur Verhinderung einer übermäßigen Ausdehnung ärztlicher Leistungen statt der vorher hierzu eingesetzten Regelleistungsvolumina (RLV) die individuellen Leistungsbudgets (ILB) in ihrem Honorarverteilungsmaßstab (HVM) etabliert. Innerhalb des Budgets wird zu den Preisen der regionalen Gebührenordnung vergütet, darüber hinausgehende Leistungen unterfallen einer Quotierung. Während das RLV mit fallgruppenspezifischen Fallwerten arbeitete, knüpft das ILB u. a. am Leistungsumfang des entsprechenden Quartals im Vorjahr an. Bei neu zugelassenen Ärzten in Einzelpraxis wird das ILB für die ersten zwölf Quartale anhand arztgruppendurchschnittlicher Leistungsbudgets errechnet. Lag in den ersten vier Quartalen nach erstmaliger Praxisaufnahme der relative Anteil des Vorgängers über dem Durchschnitt der Arztgruppe, wurde stattdessen zur Berechnung des ILB der Anteil des Vorgängers herangezogen.

Argumentation des Radiologen

Für sein erstes Quartal in Einzelpraxis forderte der Kläger rund 256.000 Euro im Rahmen des ILB an. Die zuständige KV Hamburg setzte das Honorar der Praxis für das Quartal I/2014 mit insgesamt nur rund 170.000 Euro fest. Hiervon entfielen rund 146.000 Euro auf das individuelle Leistungsbudget (ILB). Der Kläger vertrat die Ansicht, dass für ihn und seinen Angestellten die besonderen Wachstumsmöglichkeiten von Anfängerpraxen in der Aufbauphase gelten müssten. Im Sinne des § 17 des maßgeblichen HVM hätte das durchschnittliche ILB der Fachgruppe zugrunde gelegt werden müssen, welches im maßgeblichen Quartal bei 111.421,95 Euro je Arzt lag. Im Fall des klagenden Radiologen hätten demnach zweimal 111.421,95 Euro, also 222.843,90 Euro für das ILB zugrunde gelegt werden müssen.

Auch wenn er zuvor bereits vertragsärztlich im Rahmen der BAG tätig gewesen sei, so entspräche seine neu gegründete Einzelpraxis nach seiner Auffassung aufgrund der räumlichen Distanz zu seinem früheren Tätigkeitsort einer Aufbau- und keiner Bestandspraxis. Er müsse sich einen neuen Patientenstamm erarbeiten und sich auf dem Markt neu positionieren, so wie es auch ein Vertragsarztneuling müsste. Das BSG habe seine Rechtsprechung zu Honoraransprüchen von Einzelpraxen ohne Angestellte auf BAG und MVZ übertragen, sodass auch diese Gesellschaften für sich Wachstumsansprüche beanspruchen könnten, solange es sich sowohl um eine Neuzulassung handele als auch die Angestellten vertragsärztliche Neulinge seien. Diese Grundsätze müssten für Einzelpraxen mit Angestellten gleichermaßen gelten.

Aus den genannten Gründen entspräche seine Praxis einer Neugründung im Sinne des § 17 HVM und auch sein Angestellter sei zuvor nicht vertragsärztlich tätig gewesen. Bei ihm und seinem Angestellten müsste in den ersten zwölf Quartalen der Fachgruppendurchschnitt für das ILB gelten.

Der Kläger erhob mit entsprechender Begründung erfolglos Widerspruch und scheiterte auch in den ersten beiden sozialgerichtlichen Instanzen.

 

LSG Hamburg verneint Wachstumsmöglichkeiten

Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg urteilte, dass die Wachstumsmöglichkeiten von Anfängerpraxen in § 17 HVM abschließend geregelt seien. Nur neu zugelassene Vertragsärzte erhielten demnach in Einzelpraxis die Privilegierung. Der Kläger sei nicht neu zugelassen im Sinne dieser Vorschrift, da er im Bezirk bereits zuvor vertragsärztlich tätig gewesen sei.

Darüber hinaus eröffne die Regelung nur noch Gründungsmitgliedern einer BAG oder eines MVZ diese Wachstumsmöglichkeit. Angestellte einer Einzelpraxis seien demnach nicht erfasst. Die KV sei auch nicht verpflichtet, eine entsprechende Regelung für die Konstellation der Einzelpraxis mit Angestellten zu treffen. Die Verlegung des Tätigkeitsorts innerhalb desselben Planungsbereichs sei nicht mit einer Praxisneugründung gleichzusetzen. Durch die Anstellung eines Jungarztes ändere sich hieran nichts. Für die Konstellation der BAG sei bereits höchstrichterlich entschieden, dass auch neu hinzutretende Partner die BAG nicht wieder in den Genuss von Wachstumsprivilegien bringen könnten. Ein lediglich angestellter Jungarzt, der anders als ein BAG-Partner nicht einmal unternehmerisches Risiko trage, dürfe in einer Einzelpraxis damit erst recht nicht Wachstumsmöglichkeiten eröffnen.

Ein Vergleich mit der Anstellung eines Arztes in einem MVZ sei ebenso wenig angezeigt, da ein MVZ mit Gründung selbst eine eigene Zulassung erhalte. Der Radiologe und Kläger in diesem Fall hingegen habe seine persönliche Zulassung nach Austritt aus der BAG in die Einzelpraxis unverändert mitgenommen.

Entscheidungsgründe des BSG

Die Revision des Klägers gegen das abweisende Urteil des LSG hatte in Teilen Erfolg.

BSG sieht keine Neuzulassung des klagenden Radiologen

Zwar ging auch das BSG wie die unteren Instanzen davon aus, dass man bei dem Radiologen selbst nicht von einer Neuzulassung im Sinne des § 17 HVM ausgehen könne. Hier sei allein relevant, dass er seine vertragsärztliche Zulassung im gleichen Bezirk bereits seit vielen Jahren innegehabt habe. Sein eigenes ILB berechne sich demnach entsprechend regulär und nicht auf Basis des Fachgruppendurchschnitts.

BSG bestätigt Wachstumsmöglichkeiten für angestellten Radiologen

Anders verhielte es sich aber mit seinem angestellten Jung-Radiologen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG müssten Regelungen zur Honorarverteilung im Arztgruppenvergleich unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen die Möglichkeit eröffnen, zumindest den durchschnittlichen Honorarumsatz zu erzielen. In der Aufbauphase, die je nach KV drei oder bis zu fünf Jahre andauern könne, müsse eine Honorarsteigerung sofort realisierbar sein. Dies sei ein Grundsatz, der ganz unabhängig vom konkreten Mechanismus zur Honorarverteilung Gültigkeit habe, also nicht nur beim früheren RLV, sondern auch beim ILB berücksichtigt werden müsse.

Für die Sonderhonorierung in der Aufbauphase sei für BAG und MVZ das doppelte Erfordernis entwickelt worden. Es müsse also

  • sowohl eine Praxisneugründung vorliegen,
  • als auch der betreffende Arzt sich in der Anfangsphase seiner vertragsärztlichen Tätigkeit befinden.

Da wiederum eine BAG auch dann als Aufbaupraxis eingestuft werde, wenn sie zuvor von einem der BAG-Partner schon als Einzelpraxis betrieben wurde, müsse dies für den hier vorliegenden, umgekehrten Fall – nämlich den Austritt aus einer BAG und Neugründung einer vertragsärztlichen Einzelpraxis an anderem Standort – gleichermaßen gelten.

Demnach sei die Praxis des Klägers als Aufbaupraxis zu qualifizieren. Da der angestellte Arzt zudem zuvor noch nicht vertragsärztlich tätig war, sei die Voraussetzung des doppelten Erfordernisses erfüllt und das ILB des Angestellten in den ersten zwölf Quartalen entsprechend auf das des Fachgruppendurchschnitts anzuheben.

Fazit

Das BSG hat ausdrücklich betont, seine Rechtsprechung zu Wachstumsmöglichkeiten im RLV-Regime auf alle Mechanismen der Honorarverteilung zu übertragen. Daher dürften mit dem vorliegenden Urteil weit über Hamburg und das ILB-Modell hinaus für alle denkbaren, ggf. noch nicht in Regelungen erfassten Fallkonstellationen einer Aufbauphase grundlegende Maßstäbe gesetzt worden sein.

 

Weiterführende Hinweise