„Wenn wir für die Patienten das Maximum wollen, müssen wir die Daten aller Fächer betrachten!“

„Smart Hospital“ beschreibt das Zusammenführen von zahlreichen verfügbaren Gesundheitsdaten, seien sie prästationär, stationär oder poststationär. Auch Rehabilitation, Telemedizin und Daten aus Apps der Patienten werden bei diesem sektorenübergreifenden Ansatz einbezogen. Der Radiologe Prof. Dr. Felix Nensa ist seit März 2022 Professor für Radiologie mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz (KI) an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen (UDE). Dort leitet er die Gruppe „KI und intelligente Krankenhausinformationsplattform“. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) fragte ihn, inwieweit die Radiologie eine Schlüsselposition im „Smart Hospital“ besetzt.

Redaktion: Ihre Professur ist am Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin (IKIM) angesiedelt, das Sie mitgegründet haben. Was ist die Aufgabe des Instituts?

Prof. Dr. Felix Nensa: Im Gesundheitswesen werden viele Innovationen der nächsten 10 bis 20 Jahre aus Digital Health und KI kommen. Prof. Dr. Michael Forsting, Direktor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie und Neuroradiologie des Universitätsklinikums Essen und Spiritus Rektor des IKIM, hat das visionär erkannt. Er vertrat die Ansicht, dass es auch in der medizinischen Fakultät eine Institution geben muss, die die Innovationen durch Forschung begleitet und sie direkt in der Patientenversorgung anwendet. Die Patientenversorgung ist in die DNA des IKIM eingebaut, sodass es einen Mehrwert für das Gesundheitswesen gibt.

Redaktion: Woran forschen Sie?

Prof. Dr. Felix Nensa: Wir arbeiten intensiv an Algorithmen der Bildsegmentierung. Bisher ist es ein sehr aufwendiger Prozess, Strukturen, die wir mittels MRT oder CT darstellen, millimetergenau zu vermessen. So ist es für das Gesundheitssystem finanziell nicht darstellbar, täglich die Tumorlast von 40 Patienten präzise zu befunden. Über KI lässt sich die Messung automatisieren. Ein KI-Modell kann z. B. auch ein CT in wenigen Sekunden in Muskulatur, Fettgewebe, Knochen, Organe etc. mittels Body Composition Analysis (BCA) zerlegen und deren Volumina quantitativ exakt bestimmen. Die BCA funktioniert komplett automatisch und ist ohne jeden Zusatzaufwand möglich, denn ein CT wird ohnehin gemacht. Es reichen eine Grafikkarte und ein bisschen Strom, um einen zusätzlichen Risikoprädikator zu bekommen.

Redaktion: Wie profitieren andere Fächer?

Prof. Dr. Felix Nensa: Das Fettgewebe ist für die kardiovaskuläre Medizin wichtig. In der Onkologie lässt sich Muskelschwund, die sogenannte Sarkopenie, genauer betrachten. Das schafft die Möglichkeit, das Risiko eines Patienten besser abzuschätzen und die Therapie daran anzupassen. Ein weiteres Beispiel ist die Transplantationsmedizin. Bei der Lebertransplantation gibt es immer wieder die Eltern-Kind-Spende. Das Organ muss vorher genau vermessen werden, um zu entscheiden, wie viele Anteile der elterlichen Leber das Kind bekommt. Ein Radiologe benötigt etwa eine halbe Stunde Zeit, um die anatomischen Strukturen der Leber zu vermessen und die Operation so zu planen, dass für Elternteil und Kind genug Gewebe vorhanden ist. Auch da haben wir ein vollautomatisches KI-Modell konstruiert, das den Prozess beschleunigt und die Radiologie entlastet.

Redaktion: Gehen Sie davon aus, dass diese KI-Modelle marktfähig sind?

Prof. Dr. Felix Nensa: Bisher wenden wir sie im Forschungskontext an. Es ist sehr wertvoll, dass wir als Universitätsklinikum, sozusagen am Point-of-Care, die wissenschaftliche Richtung weisen können. Da das Klinikum kein Medizinproduktehersteller ist, ist noch keine der Entwicklungen zugelassen. Wir würden das gerne tun, doch fehlen uns die personellen Ressourcen. Wir haben allerdings Patente angemeldet und mit Finanzinvestoren gesprochen. Ein Nachteil ist, dass die Geldgeber in Köpfe investieren wollen. Ich müsste meine Professur aufgeben und in ein Start-up wechseln. Würde die Klinik ein Start-up gründen, würde sie mit dem Personal ihre höchsten Werte fortgeben. Wir stellen uns daher einen langfristig interessierten strategischen Investor vor, der mit uns einen Start-up-Incubator aufbaut, der an das IKIM angebunden ist.

Redaktion: Dennoch haben kommerzielle Anbieter Digitalisierung und KI für die Gesundheitsbranche längst entdeckt.

Prof. Dr. Felix Nensa: Ja, doch entwickeln große und kleine Konzerne sehr häufig am klinischen Bedarf vorbei. Sie nehmen z. B. Deep Learning als Methode und suchen nach Problemen, die sich damit lösen ließen. Viel sinnvoller wäre es, ins Krankenhaus zu gehen und zu fragen, wo der Schuh drückt. Auch überlegen Informatiker, wie sie Radiologen helfen können, Bilder zu betrachten. Doch das Betrachten und daraus Schlüsse zu ziehen, macht die Freude unserer Arbeit aus. Darin sind wir extrem effizient und brauchen meistens überhaupt keine Hilfe. Viel besser wäre es, wenn wir bei den übrigen 80 Prozent unserer Arbeit, die weniger Spaß macht, entlastet würden.

Redaktion: Sie haben zudem die „Smart Hospital Information Platform“ (SHIP) an der Essener Universitätsklinik entwickelt und leiten sie. Welche Informationen liefern andere Fächer an die Plattform?

Prof. Dr. Felix Nensa: Zwei der Professuren im IKIM kommen aus der Onkologie, eine aus der Medizininformatik und eine aus der Kardiologie ist zurzeit im Berufungsverfahren. In Essen gibt es kein Hauen und Stechen, eins und eins sind mehr als zwei. Die anderen Fachdisziplinen sehen, dass das IKIM methodisch die Ganzheitlichkeit fördert. Wenn wir für einen Patienten das Maximale herausholen wollen, dann müssen wir ihn als Ganzes betrachten. Dabei helfen die Daten aller Disziplinen. Das Patient-Dashboard, das wir jetzt haben, wird mit jedem Eintrag automatisch synchronisiert. Es hilft massiv. Wir sind schneller und schreiben bessere Befunde.

Redaktion: Dennoch gibt es Ärztinnen und Ärzte, die mit der Digitalisierung hadern. Sie argumentieren, dass sie lieber behandeln als Daten einzugeben.

Prof. Dr. Felix Nensa: Dann ist die Digitalisierung dort fehlgeschlagen. Denn sie entlastet in Wirklichkeit ja. Vor 20 Jahren war es mit viel Archivarbeit, Telefonaten und Papierkram verbunden, ein aktuelles CT mit der Voruntersuchung des Patienten zu vergleichen. Heute sparen digitale Medien viel Zeit. Doch darf man die Dinge nicht vermischen: Digitalisierung und Bürokratie sind zweierlei. Der Workload im Gesundheitswesen ist in den vergangenen 20 Jahren extrem gestiegen. Die Dokumentation hat stark zugenommen. Auch die Bildgebung wird von Jahr zu Jahr stärker nachgefragt. Doch sollte die Digitalisierung, wenn sie richtig gemacht ist, den bürokratischen Aufwand eigentlich reduzieren. Man kann natürlich sagen: Gäbe es die Digitalisierung nicht, wäre der Workload nicht so angestiegen. Aber das kann nicht die Lösung sein.

Redaktion: Ihr Werdegang ist beeindruckend. Sie studierten parallel Medizin an der Ruhr-Universität Bochum und in Straßburg sowie Informatik an der Fernuniversität Hagen. Warum reichte ein Studium nicht aus?

Prof. Dr. Felix Nensa: Als ich Abitur machte, mussten junge Männer noch Wehr- oder Zivildienst leisten. Ich war damals wie ein trockener Schwamm, wollte lernen und eine Zivistelle, die mich fordert. Über mehrere Ecken stieß ich auf ein Forschungsinstitut, das sich mit Lungenkrebsfrüherkennung beschäftigte. Dessen Leiter erkannte schnell mein Interesse. Er ließ mich eine Forschungsdatenbank erweitern und Vorträge vorbereiten. Nach einem Jahr hatte ich die Befundungssoftware im Institut komplett neu entwickelt und um mehrere Features erweitert. Dieser Leiter empfahl mir, Medizin zu studieren, da man so in Wissenschaft und Forschung breit aufgestellt sei. Um meine IT-Fähigkeiten weiterzuentwickeln, schrieb ich mich an der Fernuniversität ein. 24 Stunden am Tag reichten schließlich nicht mehr aus, als ich zusätzlich in ein Start-up einstieg. Daher setzte ich das Informatikstudium nicht fort, sondern machte das Staatsexamen als Mediziner. Als ich 30 wurde, entschied ich mich endgültig für die Medizin. Radiologie war wegen der digitalen Inhalte naheliegend, die Detektivarbeit fand ich immer spannend. Ich wollte an ein Universitätsklinikum, möglichst progressiv. Essen stach heraus, denn der Standort war nicht nur in der Forschung sehr gut, sondern es gab auch eine extrem gute Truppe von IT-lern in der radiologischen IT. Die waren total froh, dass ein Radiologe ihre Sprache spricht.

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