Unterdurchschnittlich abrechnende Praxis erstreitet höheres RLV im einstweiligen Rechtsschutz

von RA Dr. Tobias Eickmann, Kanzlei am Ärztehaus, Frehse Mack Vogelsang, Dortmund, www.kanzlei-am-aerztehaus.de

Das Sozialgericht (SG) Marburg hat einer radiologischen Gemeinschaftspraxis im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig ein Honorar auf Basis von 1.500 RLV-Fällen für das Quartal 3/10 zugesprochen (Beschluss vom 1.9.2010, Az: S 11 KA 604/10 ER). Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hatte der Praxis zuvor ein RLV auf Basis von 373 Fällen zugewiesen. Nach Auffassung des ­SG hat die KV dabei Vorgaben des Bundessozialgerichts (BSG) missachtet, wonach ­Praxen in der Aufbauphase die Möglichkeit haben müssen, zumindest bis zum Durchschnitt der Fachgruppe wachsen zu können. 

Hintergrund

Die zum Quartal 3/10 erneut grundlegend veränderte Honorarsystematik hat viele neue Fragen und Unsicherheiten aufgeworfen. Sicher scheint derzeit nur, dass ein Honorarsystem mit Planungssicherheit für die Vertragsärzte bis auf Weiteres wohl Wunschdenken bleibt. Insbesondere lässt sich nicht verhindern, dass immer wieder Gestaltungen auftreten, die in das vorhandene Schema aus verschiedenen Gründen nicht passen. Dies verdeutlicht auch die Entscheidung des SG Marburg. 

Sachverhalt

Eine zum Quartal 1/08 gegründete radiologische Gemeinschaftspraxis von drei Ärzten mit Vorhaltung von CT und MRT war aufgrund verschiedener nachvollziehbarer Umstände (unter anderem Verzögerung des Praxisneubaus) zunächst nur in sehr eingeschränktem Umfang vertragsärztlich tätig. Im Quartal 3/09 wurden lediglich 373 RLV-relevante Fälle behandelt. Aufgrund dessen wies die KV Hessen der Gemeinschaftspraxis mit Schreiben vom 16. Juni 2010 für das Quartal 3/10 ein RLV in Höhe von ca. 28.000 Euro zu. 

Die Praxisentwicklung war jedoch nach Beseitigung der anfänglichen Schwierigkeiten inzwischen rasant. So wurden im Quartal 1/10 bereits 2.178 RLV-relevante Fälle behandelt. 

Die Gemeinschaftspraxis wandte sich daher im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes an das SG Marburg und verlangte, dass ihr eine Abrechnungsmöglichkeit mindestens bis zur Höhe des Fachgruppendurchschnitts ermöglicht werden müsse. 

Die KV hielt entgegen, dass der Honorarvertrag eine Wachstumsmöglichkeit durch die Anknüpfung an das jeweilige Vorjahresquartal bis zur Abstaffelung vorsehe. Für eine Ausnahmeregelung sei kein Raum, da die drei Ärzte im Referenzquartal bereits als Vertragsärzte niedergelassen waren; es handele sich nicht um eine „junge Praxis“. 

Entscheidungsgründe

Das SG Marburg entschied zu Gunsten der Gemeinschaftspraxis, weil der RLV-Zuweisungsbescheid offensichtlich rechtswidrig sei. Im Rahmen der an sich von der KV zu treffenden Ermessensentscheidung komme eine andere RLV-Zuweisung als diejenige auf Basis des Fachgruppendurchschnitts nicht in Betracht, sodass das Gericht ausnahmsweise selbst die Feststellung vornehmen könne. 

Zunächst sei der RLV-Zuweisungsbescheid schon allein deshalb rechtswidrig, weil er entgegen der gesetzlichen Vorgabe in § 87b Abs. 5 SGB V nicht spätestens vier Wochen vor Quartalsbeginn erlassen worden war. Erfolgt die Zuweisung wie vorliegend zu spät, gilt nach der gesetzlichen Konzeption das bisherige RLV – hier also das des Quartals 2/10 – vorläufig fort. Da im Quartal 2/10 im Rahmen eines weiteren gerichtlichen Eilverfahrens ein RLV in Höhe von 54.000 Euro zugewiesen worden war, würde dieses fortgelten. 

Darüber hinaus ergebe sich die Rechtswidrigkeit auch daraus, dass die KV fortgesetzt die Vorgaben des Bundessozialgerichts (BSG) zu den Wachstumsmöglichkeiten für unterdurchschnittliche Praxen missachte. Das BSG habe wiederholt festgestellt, dass umsatzmäßig unterdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben müssen, zumindest den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe zu erreichen. Dem Vertragsarzt muss wegen seines Rechts auf berufliche Entfaltung unter Berücksichtigung der Honorarverteilungsgerechtigkeit die Chance bleiben, durch Qualität und Attraktivität seiner Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation seiner Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitimerweise seine Position im Wettbewerb mit den Berufskollegen zu verbessern. Daher ist allen Praxen mit unterdurchschnittlichen Umsätzen die Möglichkeit einzuräumen, bis zum Fachgruppendurchschnitt zu wachsen. 

In seinem Urteil vom 3. Februar 2010 (Az: B 6 KA 1/09 R) hat das BSG präzisiert, dass für Aufbaupraxen zumindest für einen Zeitraum von drei Jahren die Steigerung auf den Durchschnittsumsatz der Fachgruppe sofort möglich sein muss, während dies anderen, noch nach der Aufbauphase unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen innerhalb von fünf Jahren ermöglicht werden muss. 

Bei der antragstellenden radiologischen Gemeinschaftspraxis handele es sich jedenfalls um eine Aufbaupraxis, die erst seit dem Quartal 1/08 in der jetzigen Zusammensetzung bestehe. Für diese Aufbaupraxis gebiete es der Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit, jegliche Fallzahlbegrenzungen bis zum Durchschnitt der Fachgruppe in der Aufbauphase zu unterlassen. 

Im Übrigen weist das SG Marburg darauf hin, dass die Regelungen in dem zugrunde liegenden Honorarverteilungsvertrag Praxen in der Aufbauphase nicht ausreichend Rechnung tragen. Es seien keine Sonderregelungen für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen oder Praxen in der Aufbauphase enthalten. Eine Steigerung des RLV im Folgejahr sei daher nur möglich, wenn im aktuellen Quartal die Fallzahl im Vergleich zum Vorjahresquartal regelleistungswidrig gesteigert werden könne. Dies zwinge den Vertragsarzt dazu, zunächst vergütungslos Leistungen zu erbringen, um im Folgejahr seine Vergütung steigern zu können. Mit dem Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit sei es aber unvereinbar, wenn – wie vorliegend – der Vertragsarzt mehr als 80 Prozent der Praxistätigkeit vorfinanzieren müsse. 

Anmerkungen

Der vom SG Marburg entschiedene Fall hat die Sozialgerichte zuvor schon mehrfach beschäftigt. Es erstaunt, dass die KV trotz mehr­facher anderslautender gerichtlicher Entscheidungen konsequent in jedem Quartal erneut ihrem Schema folgt und so die betroffene radiologische Praxis regelmäßig wieder zwingt, beim Sozialgericht um einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen. 

Das SG Marburg hat die schematische Vorgehensweise der KV wohl auch vor diesem Hintergrund mit ungewöhnlich deutlichen Worten als rechtswidrig qualifiziert und erneut betont, dass nach der ständigen Rechtsprechung des BSG umsatzmäßig unterdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben müssen, zumindest den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe zu erreichen. 

Während Neupraxen bzw. Praxen in der Aufbauphase das Wachstum unmittelbar möglich sein muss, kann sonstigen unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen eine Wachstumsphase von bis zu fünf Jahren zugestanden werden. 

Praxistipp

Gerade im Geltungsbereich der RLV gibt es Praxen, die aufgrund verschiedener Umstände nicht in das „vorgegebene Raster“ passen, wie der entschiedene Sachverhalt beispielhaft belegt. In solchen Fällen sollte geprüft werden, ob auf Grundlage des regionalen RLV-Vertrags (Honorarvertrags) Sonderregelungen vorgesehen und die Vorgaben des Bewertungs­ausschusses rechtmäßig umgesetzt sind. Ob ein rechtliches Vorgehen sinnvoll ist, sollte sodann im jeweiligen Einzelfall entschieden werden.