„Ein Fach, in dem nicht geforscht wird, stirbt über kurz oder lang.“

Der 104. Deutsche Röntgenkongress (Röko) trägt das Motto „Abenteuer Forschung“. Er soll die Forschung in der Radiologie in ihrer ganzen Vielfalt feiern. Die Schwerpunktthemen lauten „Forschung in Klinik – und Praxis!“, „Präzisionsmedizin: Prävention, Prädiktion, Prognostikation“ und „Interdisziplinäre Behandlungskonzepte“. Kongresspräsidentin ist Univ.-Prof. Dr. Christiane Kuhl, Professorin für Diagnostische und Interventionelle Radiologie an der RWTH Aachen und Direktorin der gleichnamigen Klinik des Universitätsklinikums Aachen. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) fragte sie, was der Röko 2023 bieten wird.

Redaktion: Wo beginnt das Abenteuer Forschung für Sie persönlich?

Prof. Kuhl: Ein Abenteuer ist immer ein Wagnis. Ernstzunehmende Forschung ist wie eine Expedition. Sie kann mühsam, beschwerlich und frustrierend sein. Auch ein Scheitern ist nicht ausgeschlossen. Doch neue Welten zu entdecken und sozusagen „hinter den Mond zu schauen“ – das ist so ziemlich das Spannendste, was man machen kann. Ich hatte so ein Erlebnis schon ganz früh, konkret während meiner Doktorarbeit. Nach vielen frustranen Projekten in anderen Fächern bin ich irgendwann in der Radiologie gelandet. Ich kann mich heute noch an das Gefühl erinnern, wie es war, als ich die ersten MR-Aufnahmen selbst erzeugen durfte – das hat mich damals regelrecht umgehauen. Ich bin also über die Wissenschaft überhaupt erst auf die Radiologie aufmerksam geworden – eigentlich hatte ich ein chirurgisches Fach angestrebt. Wissenschaft in der Radiologie war von Anfang an für mich auch deshalb so attraktiv, weil wir in der Radiologie das Privileg haben, unsere Wissenschaft direkt an und mit den Patienten durchführen zu können. Denn bildgebende Verfahren zur Erkennung einer Erkrankung lassen sich an der Erkrankung selbst am besten entwickeln.

Redaktion: Warum ist medizinische Forschung für die Radiologie so wichtig?

Prof. Kuhl: Forschung ist die Lebensader jedes Fachs. Ein Fach, in dem nicht geforscht wird, stirbt über kurz oder lang. Fortschritt gibt es in allen medizinischen Fächern, mit denen wir täglich zu tun haben. Man sollte immer eine Nasenlänge voraus sein (lacht). Gerade in der Radiologie haben wir wegen der vielseitigen Themen, die wir bearbeiten können, und wegen der technischen Möglichkeiten, die sich uns bieten oder die wir selbst initiieren können, zahlreiche Forschungsfelder. Wir arbeiten in Aachen z. B. am von der EU geförderten Projekt „Hypmed“, um eine neue Herangehensweise für die MR-PET-Hybridbildgebung zu etablieren. Wir wollen weg von der Ganzkörperbildgebung hin zu einer fokussierten, aber hoch empfindlichen Hybriddiagnostik, z. B. für Brustkrebs. Das Hypmed-Konsortium hat eine MR-Oberflächenspule gebaut, in die ein MR-transparenter, voll-digitaler PET-Detektorkranz integriert ist. Wir sind sehr gespannt, ob es uns damit gelingt, Brustkrebs besser zu erkennen oder zu charakterisieren.

Redaktion: Ein Schwerpunktthema des Röko 2023 widmet sich der „Forschung in Klinik – und Praxis“. Sind das nicht zwei unterschiedliche Schwerpunkte?

Prof. Kuhl: Genau das ist die derzeitige Lesart. Man geht in die Praxis, weil man keine Forschung betreiben möchte oder beim Abenteuer Forschung negative Erfahrungen gemacht hat. Dabei wären gemeinsame Vorgehensweisen perfekt. Beispiel Datenwissenschaft in der Radiologie: In den Praxen werden in großem Umfang Daten gesammelt, die für die Forschung bislang bis auf wenige Best-Practice-Beispiele nicht genutzt werden. Zudem könnten in den Unikliniken neu entwickelte Techniken und Vorgehensweisen wie z. B. die fokussierte MRT gemeinsam mit den Praxen getestet werden. Es ist m. E. primär Aufgabe der Universitätskliniken, solche Kooperationen zu suchen und zu organisieren. In den Praxen habe ich extrem aufgeschlossene, interessierte Menschen kennengelernt, die ihrerseits hohes Interesse daran haben, die diagnostischen Möglichkeiten durch Wissenschaft zu erweitern. All dieses Potenzial bleibt im Augenblick vollkommen ungenutzt. Durch die Veranstaltungen auf dem Röko möchte ich gegenseitiges Verständnis und Interesse wecken.

Redaktion: „Präzisionsmedizin: Prävention, Prädiktion, Prognostikation“ ist ein weiterer Schwerpunkt. Welche Entwicklung erwarten Sie für die personalisierte Medizin?

Prof. Kuhl: Wir können mit der Bildgebung, insbesondere der multiparametrischen MRT, der Phonton-Counting- oder Spektral-CT, sowie mit der Hybridbildgebung Informationen über Erkrankungsherde liefern, die über die üblicherweise von uns erfragten Diagnosen wie z. B. „Ist das ein maligner Tumor, ja oder nein?“ weit hinausgehen.

Die Bildgebung kann mehr Informationen liefern – so z. B. die „Bösartigkeit“ von Tumoren graduieren, also deren Behandlungswürdigkeit. Diese zu ermitteln, wäre in jedem Einzelfall sehr wichtig, weil wir heute wissen, dass sie höchst variabel ist. So gibt es z. B. Mammakarzinome, die man nicht behandeln muss, weil sie so langsam wachsen – andere verhalten sich hochmaligne und sind prognostisch eher mit kleinzelligen Bronchialkarzinomen zu vergleichen. Eine Phänotypisierung von Tumoren durch Bildgebung könnte vermutlich helfen, die individuelle Tumorbiologie besser zu verstehen.

Redaktion: Was bedeutet die Phänotypisierung für die Therapie?

Prof. Kuhl: Die biologische Bedeutung eines Tumors zu kennen, ermöglicht eine auf die individuelle Behandlungswürdigkeit zugeschnittene Therapie. Bislang wird bei der personalisierten Medizin der Behandlungsplan im Wesentlichen aus den genetischen Eigenschaften eines Tumors abgeleitet. Aber wie wir wissen: Erbanlagen sind das eine – die Umgebung spielt für die Entwicklung eine mindestens ebenso große Rolle. Das „Microenvironment“ von Tumoren, also ihre direkte Umgebung, beeinflusst die Eigenschaften von Tumoren ganz erheblich. So können z. B. die genetischen Anlagen eines Tumors ganz viel Angiogenese codieren – die Gefäße, die bei der Angiogenese wachsen sollen, müssen jedoch aus der Umgebung des Tumors kommen. Wenn das Karzinom also in einer „ungünstigen“ Umgebung liegt, kann es sein, dass es sein Angiogenese-Potenzial sozusagen gar nicht „auf die Straße bringt“. Wie viel Angiogenese ein Karzinom tatsächlich hinkriegt, kann man daher allein über genomische Untersuchungen nicht wirklich herausfinden – wohl aber in Kombination mit Bildgebung. Kurz: Die Kombination aus Genotypisierung (genomic profiling) und bildgebender Phänotypisierung wird wahrscheinlich ein weit vollständigeres Bild über die Behandlungsbedürftigkeit eines Karzinoms liefern. Das nennt man Prognostikation.

Bildgebung kann zudem Biomarker liefern, die uns sagen, wie belastbar der einzelne Patient ist, ob er also eine Behandlung überhaupt vertragen würde. Solche Bildgebungs-Biomarker sind aus allen gängigen CT- oder MR-Untersuchungen extrahierbar. Diese Daten bleiben bislang vollständig ungenutzt, obwohl sie wertvolle Informationen über die individuelle Konstitution und Belastbarkeit eines Menschen, sein individuelles kardiovaskuläres oder metabolisches Risiko u. v. m. liefern können – also Informationen, die für personalisierte Behandlungskonzepte höchst wertvoll wären. Für die Prävention, also Bildgebung zur Früherkennung von Erkrankungen, setzen wir aktuell viel zu wenig auf Bildgebung. Die Mammografie zur Brustkrebsfrüherkennung ist ein guter Start. Aber Bildgebung wäre auch für die Früherkennung des Prostata- oder Bronchialkarzinoms sinnvoll.

Redaktion: Müsste das geplante Lungenscreening also bald kommen?

Prof. Kuhl: Ja. Bereits vor 13 Jahren gab es durch den National Lung Cancer Screening Trial die erste Level-1-Evidenz, dass low-dose CT das Risiko, am Bronchialkarzinom zu sterben, reduziert. Wenn man bedenkt, dass die Planungen für diese Studie vielleicht nochmal 10 bis 15 Jahre gedauert haben, kann man ermessen, wie lange die Erzeugung wissenschaftlicher Daten gerade für die Nutzung von Bildgebung zur Früherkennung braucht. Und leider wird zwar immer unterstrichen, dass Vorbeugung besser wäre als Heilen – aber wenn relativ teure Bildgebungsverfahren zur Früherkennung eingesetzt werden sollen, entstehen immer erst mal hohe Kosten – auch schon bei den entsprechenden Studien. Auch wenn wir dann belegen können, dass solche Früherkennungsmethoden kosteneffektiv sind, werden diese Konzepte nicht immer begrüßt.

Redaktion: Das dritte Schwerpunktthema widmet sich „Interdisziplinären Behandlungskonzepten“. Warum ist dieses Thema für Sie wichtig?

Prof. Kuhl: Wir müssen begreifen, dass die Radiologie ein durch und durch klinisches Fach ist. Wir sind nicht nur Zaungast, sondern tragen genau wie andere Fächer Verantwortung für unsere Patienten. Zum einen liefern wir wichtige Informationen für die angemessene Behandlung, zum anderen agieren wir als Behandler. So müssen wir uns aufstellen. Wir müssen für Patienten und deren Angehörige ansprechbar und für unsere Kollegen sichtbar sein. Das bedeutet z. B. auch, dass wir in Tumorkonferenzen nicht nur Bilder zeigen, sondern mit den übrigen Kollegen als Behandler an einem Tisch sitzen.

Redaktion: Also hin zum Patienten, weg von den Daten?

Prof. Kuhl: In den vergangenen fünf, sechs Jahren haben in der Radiologie die Themen künstliche Intelligenz (KI) und Datenwissenschaft sehr viel Raum eingenommen. Das ist auch berechtigt. Als Radiologen müssen wir hier forschen, um die Entwicklung nicht nur zu begleiten, sondern aktiv zu steuern. Aber ich finde, dass die radiologische Wissenschaft etwas eindimensional geworden ist, weil sich scheinbar alles nur noch um KI dreht. Wir haben doch so viel mehr zu bieten! Zudem möchte ich vermeiden, dass sich die nächste Radiologen-Generation noch weiter von unseren Patienten entfernt. Bislang war es schon ein Problem, wenn sich Radiologen nicht mehr mit Patienten, sondern nur mit deren Bildern befassen. Zukünftig könnten sich Radiologen nicht mal mehr mit Bildern direkt, sondern nur mit daraus abgeleiteten Daten befassen. Kurz: KI ist wichtig, gerade für die Radiologie – aber Wissenschaft in der Radiologie sollte sich nicht darin erschöpfen.

Redaktion: Sich auf Forschung einzulassen heißt auch, Rückschläge zu akzeptieren. Was empfehlen Sie, um ein Scheitern zu verarbeiten?

Prof. Kuhl: Dazu gehört ein gerüttelt Maß an Resilienz. Rückschläge muss man aushalten. Ich persönlich habe mit der Forschung zu Brustkrebs und der Behandlung von Tumorerkrankungen Themen für mich gefunden, die eine große Sogwirkung entfalten. Das bedeutet: Ich muss dafür nicht nur Energie aufbringen – es gibt mir auch Energie zurück. Natürlich brennen Wissenschaftler nicht für jedes Thema. Doch wer mit seinem Forschungsfeld das Gefühl verbindet, die Welt ein bisschen besser zu machen und etwas Sinnvolles zu tun, kann Rückschläge eher verkraften. Hilfreich ist zudem ein Umfeld, das Forschung fördert und als primäre Aufgabe betrachtet – und nicht nur als „nice-to-have“.

Redaktion: Der Röko findet wieder digital und in Präsenz statt. Beim Präsenzkongress gibt es zahlreiche Möglichkeiten zum Austausch. Was schätzen Sie persönlich daran?

Prof. Kuhl: Die Röntgengesellschaft hat erkannt, dass die Hauptfunktion des Präsenzkongresses nicht nur in der Weiterbildung und der Wissenschaft liegt – sondern dass der kollegiale Austausch, die Diskussionen, das Netzwerken, die Freude an sozialen Kontakten gleich wichtige Ziele sind. Weiterbildung lässt sich schließlich auch durch digitale Formate ziemlich gut abbilden. Doch um Menschen auch außerhalb der eigenen „Blase“ kennenzulernen, mit ihnen Kontakte zu knüpfen und sich auszutauschen – dazu muss man sich treffen.