„Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sie muss einen direkten Nutzen stiften!“

Der hih (= health innovation hub) des Bundesministeriums für Gesundheit ist ein Think Tank, der Ideen zu digitalen Konzepten im Gesundheitswesen vorantreibt. Gegründet wurde er von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Der Minister berief im März 2019 Prof. Dr. Jörg Debatin – Radiologe, Hochschullehrer und Manager – zum Leiter des Beratergremiums. Prof. Dr. Debatin war zuvor u. a. Ärztlicher Direktor und Vorsitzender des Vorstands am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Davor war er Vizepräsident des Medizintechnikherstellers GE Healthcare. Mit Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) sprach er über die Aufgaben des hih.

Redaktion: Wie würden Sie einem Radiologen erläutern, was im hih geschieht?

Prof. Dr. Debatin: Der hih ist ein Team aus 15 Domain-Experten, die dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in einer Phase der Weichenstellung für digitale Gesundheitsstrukturen über drei Jahre zur Verfügung stehen. Es ist ein buntes Team. Alle kennen das deutsche Gesundheitssystem in seiner Komplexität und brennen für den Einsatz digitaler Technologien; nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck einer besseren Gesundheitsversorgung.

Wir schauen dem BMG bei der Entstehung neuer Gesetze über die Schulter und überlegen, wie das Gewollte in der Praxis umgesetzt werden kann. Natürlich werfen wir auch eigene Ideen ein. Dabei versuchen wir, digitale Anwendungen in der Gesundheitsversorgung sichtbar zu machen. Wir setzen da an, wo digitale Technologien einen tatsächlichen Nutzen für Ärzte und Patienten bringen. Dabei hat die Pandemie für Rückenwind gesorgt.

Redaktion: Die Radiologie ist eine sehr innovative Fachdisziplin, die stark digitalisiert ist. Zufall, dass ausgerechnet Sie als Radiologe den hih leiten?

Prof. Dr. Debatin: Nein, bestimmt nicht. Die Radiologie hat die Transformation von „analog“ zu „digital“ bereits im letzten Jahrhundert vollzogen. Das ist auch Teil meiner DNA geworden und dafür verantwortlich, dass ich mich in den verschiedenen weiteren Stationen meines beruflichen Wirkens immer stark für digitale Technologien eingesetzt habe. Das gilt für die Einführung einer umfassenden elektronischen Patientenakte als Ärztlicher Direktor des UKE ebenso wie für den Einsatz von KI zur Verbesserung von CT- und MRT-Bilddaten während meiner Tätigkeit bei GE Healthcare.

Redaktion: KI ist eines der Schwerpunktthemen des hih. Wo könnte sie Mediziner in den kommenden Jahren entlasten?

Prof. Dr. Debatin: Im frühen Einsatz sind heute vor allem Systeme, die erkennen, ob und warum ein Bild nicht normal ist. Das entlastet Radiologen, die nun mehr Zeit für die Interpretation der Auffälligkeit haben. Neben der Bildgebung sehen wir den Einsatz der KI auch in der Labormedizin, der Interpretation von Genomdaten und der Befundung von EKGs. Ganz entscheidend dabei ist die Güte der zugrunde liegenden Daten, getreu dem Motto: garbage in, garbage out.

Im Bereich Bildgebung geht es zunächst um die Differenzierung zwischen „normal“ und „nicht normal“. Hinzu kommt dann die Markierung der „nicht normalen Aspekte“. Bei einer Mammografie mag es sich dabei um Mikroverkalkungen als Hinweis für ein Mamma-Ca handeln; im CT der Lunge um einen Rundherd als möglicher Hinweis auf ein Lungen-CA. Im nächsten Schritt geht es um die Interpretation der Anomalität. Die KI wird zu einem weiteren Werkzeug im Arztkoffer, neben Handbüchern, Messinstrumenten und Konsiliarbericht.

Redaktion: Es geht dem hih auch um Datenspenden. Sollten Radiologen ihre Patienten bitten, der Wissenschaft ihre jeweiligen Behandlungsdaten zur Verfügung zu stellen?

Prof. Dr. Debatin: Die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Medizin benötigt Patientendaten. Es gibt Länder wie Finnland, in denen sämtliche Patientendaten der Wissenschaft wie auch den forschenden Gesundheitsunternehmen zur Verfügung gestellt werden. Hintergrund: Wer von der Diagnostik und/oder der Therapie im staatlichen Gesundheitssystem profitiert, hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich die Medizin weiterentwickeln kann. Deshalb müssen alle Daten pseudo- oder anonymisiert zur Verfügung gestellt werden. Dieses Vorgehen läuft unserem deutschen Wertesystem zuwider. Es beruht bei medizinischen Daten vor allem auf Selbstbestimmung und Freiwilligkeit. Erfreulicherweise sind über 80 Prozent der Deutschen bereit, ihre medizinischen Daten freiwillig den Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen; was wir ermöglichen sollten.

Redaktion: Seit Oktober 2020 gehören Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) zur Versorgung. Ihre Zahl steigt, doch die Erfahrung zeigt, dass Patienten schnell das Interesse verlieren. Wie lässt sich das ändern?

Prof. Dr. Debatin: Das deckt sich nicht mit unseren Beobachtungen. DiGA sind gleichbedeutend mit rezeptpflichtigen Medikamenten, die ein konkretes Leiden behandeln. Bislang können Ärzte zwölf verschiedene DiGA für enggefasste Indikationen verschreiben. Hier ist die Adheränz gleichweg höher.

Redaktion: Digitalisierung wird grundsätzlich als Mittel betrachtet, um mehr Zeit für die sprechende Medizin zu gewinnen. Über was sollten Radiologen intensiver mit ihren Patienten reden?

Prof. Dr. Debatin: Die Beschreibung eines Befunds, versehen mit einer Bild-Diagnose, reicht nicht mehr. Die Bildinformation muss in Beziehung zum gesamten Patienten gesetzt werden. Der Radiologe muss klinisch denken. Welche Informationen sind für die weiterführende Therapie entscheidend? Das setzt einen intensiveren Austausch mit den überweisenden Klinikern voraus und die Bereitschaft, sich mit dem Patienten selbst auseinanderzusetzen. Der Bundesverband ist schon seit einigen Jahren dabei, hier vor allem die social skills der Radiologen zu adressieren. Der Umgang mit den Patienten selbst wird immer wichtiger.

Redaktion: Kritiker warnen, dass sich die Arbeit durch Digitalisierung verdichtet und noch weniger Zeit für Patienten bleibt. Ihre Meinung dazu?

Prof. Dr. Debatin: Digitalisierung ist wahrlich kein Selbstzweck, sie muss einen direkten Nutzen stiften! Gerade wir Radiologen wissen das. Ohne digitale Technologien kein CT, kein MRT, kein PET und natürlich keine Befundung mit PACS und RIS. Wir brauchen diese Basistechnologien aus drei Gründen:

  • 1. Durch die Standardisierung der Dokumentation und aufwendigen Auswertungen schaffen sie Freiräume für Ärzte und Pflege.
  • 2. Sie stillen das Bedürfnis der Patienten nach Sicherheit, Geschwindigkeit, Bequemlichkeit und Transparenz.
  • 3. Sie werden benötigt, um die Potenziale der individualisierten Medizin für jeden Patienten zu realisieren.

Redaktion: Die Pandemie zeigt, dass die medizinische Forschung im ständigen Lernmodus ist. Gaukeln digitale Daten eine nicht existente Sicherheit vor?

Prof. Dr. Debatin: Das Gegenteil ist der Fall. Die Pandemie macht deutlich, dass es ohne digitale Tools nicht geht. Das gilt für die Nachverfolgung Infizierter sowie für die Allokation von Ressourcen, wie z. B. der Intensivkapazitäten durch das DIVI-Intensiv-Register. Die Bürger beklagen zu Recht die unzureichende Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung. Deshalb ist es wichtig, die derzeitige Dynamik in Regulierung und Umsetzung digitaler Projekte wie der elektronischen Patientenakte oder der Krankenhaus-Digitalisierung weiterzuführen. Nur so werden wir als Gesellschaft die zukünftigen medizinischen Herausforderungen meistern können.

Redaktion: Es heißt, Frauen würden die gesellschaftliche Transformation besser für sich nutzen als Männer. Gelangen also durch die Digitalisierung mehr Frauen in Führungspositionen?

Prof. Dr. Debatin: Frauen gelangen heute zahlreicher in Führungspositionen, weil es an der Zeit ist. Und ja, sicherlich haben die erweiterten Möglichkeiten der sogenannten New Work damit auch etwas zu tun. Aber in erster Linie ist es doch der gesellschaftliche Wandel. Es geht darum, die Medizin so attraktiv zu gestalten, dass sich alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen.

Redaktion: Wird die Medizin durch digitale Mittel bunter?

Prof. Dr. Debatin: Die Medizin wird besser durch die Bereitschaft, Daten zu teilen, aufzubereiten, Wissenstransfer zu unterstützen, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten und den Patienten miteinzubeziehen. Wenn Sie das unter „bunt“ verstehen, stimme ich Ihnen zu.