Die Haftung des Oberarztes: Gerät er nur bei eigenen Fehlern in die Schusslinie?

von RA und FA für MedR Rainer Hellweg, armedis Rechtsanwälte, Hannover, www.armedis.de 

Leitende Ärzte können nicht nur für eigene, sondern auch für Fehler der nachgeordneten Mitarbeiter haftbar gemacht werden. Für Chefärzte ist das „Organisationsverschulden“ in der Rechtsprechung seit langem etabliert. Doch auch der Oberarzt kann ins Visier geraten – sei es bei Fehlern der Assistenzärzte, bei Fehlabrechnungen oder bei Mängeln in der Organisation. Der folgende Beitrag erklärt, wann der Oberarzt wirklich haftet.

Hintergrund: Haftung wegen Organisationsverschuldens 

Für die Behandlung im Krankenhaus ist haftungsrechtlich oft der Begriff des „Facharztstandards“ entscheidend. Dieser bezeichnet den Maßstab der objektiv erforderlichen ärztlichen Sorgfalt. Das bedeutet: Zwar hat der Patient keinen Anspruch darauf, dass sämtliche Behandlungen nur durch Fachärzte durchgeführt werden – ansonsten wäre eine ärztliche Ausbildung in der Klinik gar nicht möglich. Der Patient darf aber haftungsrechtlich eine ärztliche Behandlung erwarten, die dem Stand eines erfahrenen Facharztes entspricht.

Wird dieser Facharztstandard nicht eingehalten, kann sich der Patient im Schadensfall auf das sogenannte Organisationsverschulden berufen. Sorgfalt geboten ist nicht nur bei der Auswahl des Personals, sondern auch bei der Einteilung der Mitarbeiter sowie bei der Organisationsstruktur in der Klinik und den einzelnen Abteilungen. Es muss sichergestellt werden, dass eine Behandlung lege artis durch Tätigwerden eines geeigneten und hinreichend qualifizierten ärztlichen Mitarbeiters gewährleistet wird.

Bisher nur Chefärzte und Klinikträger „in der Schusslinie“ 

In Gerichtsentscheidungen werden meist Chefärzte und Klinikträger mit einem „Organisationsverschulden“ konfrontiert: Den Klinikträger trifft dabei die Verpflichtung, eine hinreichende personelle und apparative Ausstattung vorzuhalten, damit der Facharztstandard eingehalten werden kann. Der Chefarzt als medizinisch Gesamtverantwortlicher seines Bereichs muss dafür sorgen, dass dort die Organisationsstruktur stimmt und das eingesetzte Personal ausreichend instruiert und überwacht wird. Dazu gehört insbesondere, den Einsatz und die Arbeit der Assistenzärzte – vor allem der Berufsanfänger – gezielt zu kontrollieren. Der Klinikträger ist wiederum verpflichtet, die Chefärzte im Bereich der ihnen übertragenen Organisationsaufgaben zu überwachen.

In der älteren Rechtsprechung wurde ein Organisationsverschulden von Oberärzten meist ausgeblendet. Bisherige Urteile fokussierten die Betrachtung beim Oberarzt auf diejenigen Tätigkeiten, die dieser selbst durchführte. Ein Organisationsverschulden des Oberarztes und eine Verantwortlichkeit für die von anderen ärztlichen Mitarbeitern begangenen Fehler blieben außer Betracht.

Oberarzt: Oft Verantwortung bei Personal und Abrechnung 

Die täglichen Abläufe und Organisationsstrukturen in den Kliniken wandeln sich jedoch: Gerade in größeren Häusern kann der Chefarzt gar nicht mehr alle Bereiche seiner Abteilung ständig kontrollieren und im Blick haben. Teilweise sind bestimmte Funktionsbereiche einzelnen Oberärzten zugeteilt – etwa spezielle diagnostische Methoden, die Personaleinteilung oder DRG-Abrechnung. Der Chefarzt hat hier weitgehend seine Befugnisse an den Oberarzt delegiert und sich selbst aus dem Fachlichen herausgenommen.

Gerät hierdurch der Oberarzt mit Blick auf den Vorwurf eines möglichen Organisationsverschuldens verstärkt in den Blickpunkt? Dass dies von Patientenseite in den Prozessen schon häufiger so vorgetragen wird, zeigt ein Fall vor dem OLG Zweibrücken (Urteil vom 17. April 2012, Az. 5 U 20/08), bei dem es um Schäden nach einer Notsectio und den Vorwurf von Organisationsmängeln ging. Das Kind erlitt wegen Sauerstoffunterversorgung schwerste Schädigungen. Der im Bereitschaftsdienst der Anästhesieabteilung eingeteilte Arzt konnte die Klinik nicht rechtzeitig erreichen, da er nach dem Notdienstplan für zwei Krankenhausstandorte zuständig war, zwischen denen eine Fahrtstrecke von etwa 30 Minuten lag. Die Klage war auch gegen den Oberarzt der Anästhesieabteilung gerichtet, da dieser für die Notdienst-Organisation mitverantwortlich war. Zudem sei er Vertreter des Chefarztes gewesen und hätte als stellvertretender Abteilungsleiter auf die Beseitigung der ihm bekannten, schweren Organisationsmängel hinwirken müssen – so der Vorwurf von Patientenseite.

Im Ergebnis wies das OLG Zweibrücken die Haftungsklage ab. Das Gericht begründete dies damit, dass die Kausalität der fehlerhaften Notdienst-Organisation für den eingetretenen Schaden nicht nachgewiesen worden sei.

Haftungsgefahren für den Oberarzt 

Für den Oberarzt können über die Patientenversorgung hinaus besondere Verantwortlichkeiten hinzukommen, wenn ihm etwa die Einteilung des gesamten ärztlichen Personals der Abteilung zugeordnet ist. Wenn ein Fehler in diesem Bereich zu einem Haftungsschaden führt, kann der Oberarzt hierfür haftungsrechtlich verantwortlich sein.

Vermehrt wird in Kliniken ein Oberarzt der Abteilung mit der Überwachung und Koordination der DRG-Abrechnung betraut – wenn sich zum Beispiel ein älterer Chefarzt in dieses Thema nicht mehr einarbeiten möchte. Hier ist für den Oberarzt besondere Vorsicht geboten: Falls Falschabrechnungen zu Einnahmeausfällen des Klinikträgers oder Rückforderungen der Krankenkassen führen, können wirtschaftliche Notsituationen im besonderen Maße dazu führen, dass der Oberarzt intern „in die Schusslinie“ gerät.

Was sollte der Oberarzt zur Vorbeugung beachten? 

Um Haftungsrisiken vorzubeugen, sollte sich der Oberarzt in zwei Richtungen – sowohl „nach oben“ als auch „nach unten“ – absichern:

  • Mit dem Chefarzt sollte er besprechen, welche medizinischen Aufgaben ihm zugewiesen sind und welche Verantwortungsbereiche er hat.
  • Nachgeordnete Assistenzärzte in seinem Bereich sollte der Oberarzt engmaschig überprüfen und anleiten. Anzuraten sind regelmäßige Besprechungen und Kontrollen – auch der nicht-ärztlichen Mitarbeiter.

Wenn nach diesen Absprachen schriftliche Arbeitsanweisungen erfolgen, erhöht dies die Rechtssicherheit. Wenn der Oberarzt gravierende Mängel bei der apparativen Ausstattung oder der Personaleinteilung sieht, sollte er dies beim Chefarzt anmahnen. Werden die Missstände nicht abgestellt, kann er im Extremfall sogar verpflichtet sein, diese bei der Klinikleitung anzuzeigen.

Fazit

Oberärzte wurden bisher von den Gerichten haftungsrechtlich meist verschont. Doch zunehmend werden ihnen Aufgaben angetragen, für die sie voll verantwortlich sind – etwa im Bereich der Organisation oder beim Thema Personaleinteilung. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, wann Oberärzte auf diesen Gebieten haftungsrechtlich in die Schusslinie geraten.