Diagnoseirrtum oder Befunderhebungsfehler? Darauf kommt es für Radiologen an

 von RAin, FAin MedR Dr. Birgit Schröder, Hamburg, dr-schroeder.com

Nach dem Motto von Kurt Tucholsky „Wenn der Deutsche hinfällt, dann steht er nicht auf, sondern sieht sich um, wer schadenersatzpflichtig ist“ versuchen immer mehr Patienten Ansprüche geltend zu machen, wenn sie mit einer Behandlung nicht zufrieden sind. Allerdings müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Fehler auch zur Haftung führt. Es kommt nicht nur darauf an, ob ein einfacher oder ein grober Fehler vorliegt. Vielmehr geht es auch um die Art eines Fehlers. Denn diese hat entscheidenden Einfluss auf die Beweislast, also die Frage, wer den Beweis zu erbringen hat.

Einleitung

Es ist zunächst auch in der Rechtsprechung anerkannt, dass es schwierig sein kann, eine „richtige“ Diagnose zu stellen. Unspezifische oder mehrdeutige Symptome können den Arzt schnell in die Irre führen. Daher hat der Bundesgerichtshof (BGH) bereits 1981 festgestellt, dass eine unzutreffende Diagnose nur sehr zurückhaltend als Behandlungsfehler gewertet werden kann (BGH, Urteil vom 14.07.1981, Az. VI ZR 35/79).

Entscheidend für die Frage der Haftung ist die Abgrenzung, ob

  • ein Diagnosefehler oder
  • ein Befunderhebungsfehler

vorliegt. Dazu gibt es eine Reihe wichtiger Gerichtsentscheidungen, die bekannt sein sollten.

Diagnosefehler, Diagnoseirrtum, Befundauswertungsfehler

Diagnosefehler, Diagnoseirrtum, Befundauswertungsfehler werden nebeneinander als Begriffe verwendet, die das Gleiche meinen. Dazu hat der BGH festgestellt (Urteil vom 26.01.2016, Az. VI ZR 146/14): „Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift.“

Ein Diagnosefehler (oder Diagnoseirrtum oder Befundauswertungsfehler) liegt also vor, wenn ein Arzt vorliegende Befunde falsch interpretiert oder auswertet. Beispielsweise wird ein Ultraschallbild fehlerhaft interpretiert. Ein Diagnosefehler setzt aber zunächst voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen.

Für die rechtliche Beurteilung ist entscheidend, dass ein Diagnosefehler dann gegeben ist, wenn die Diagnose des Arztes in der gegebenen Situation schlicht nicht mehr vertretbar war. Mangelnde Vertretbarkeit wird angenommen, wenn sich die Diagnose als nicht mehr „verständliche“ Deutung der Befunde darstellt bzw. wenn Befunde nicht berücksichtigt wurden.

Diagnosefehler kommen i. d. R. nur beim Übersehen eindeutiger Befunde bzw. klassischer Krankheitsbilder vor. Die Beweislast trägt der Patient.

Zwischenfazit

Die entscheidende Frage für die Einordnung ist, ob eine Fehlinterpretation von Befunden oder deren Nichterhebung im Vordergrund steht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei einem Diagnosefehler Befunde erhoben, aber fehlerhaft gedeutet wurden.

 

Befunderhebungsfehler

Anders ist dies bei einem Befunderhebungsfehler: Ein solcher wird angenommen, wenn ein Arzt nicht alle notwendigen Befunde erhoben hat und der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis gebracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre. Es fehlen also Befunde – bereits die Diagnostik war unvollständig.

Merke

Da die Gerichte sehr zurückhaltend bei der Annahme eines Diagnosefehlers sind, kommt von Patientenanwaltsseite zunehmend der Vorwurf eines Befunderhebungsfehlers erhoben.

 

Wichtig ist aber auch, dass bei einer fachgerechten Befunderhebung und ihrer ausreichenden Dokumentation der Vorwurf des Diagnosefehlers i. d. R. ins Leere geht!

Beweislastverteilung

Im Grundsatz beweist in einem Zivilprozess jeder die für ihn günstigen Tatsachen. Daher trägt die Patientenseite die Beweislast für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, die Verantwortlichkeit des Arztes, den Schaden und die Ursächlichkeit.

Um den Vorwurf zu klären, wird das Gericht i. d. R. ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben. Nur ein Sachverständiger kann aufklären, ob eine Behandlung lege artis durchgeführt wurde. Ausnahmen gibt es beispielsweise bei groben Fehlern, also besonders gravierenden Pflichtverstößen, d. h. dann, wenn grobes Fehlverhalten eines Arztes vorliegt, welches aus medizinischer Sicht schlicht unverständlich ist. Dann kann sich die Beweislast umkehren. Bei einem Diagnosefehler kommt eine Beweislastumkehr nur dann in Betracht, wenn der Fehler als grob einzustufen ist.

Der BGH führt dazu erläuternd aus: „Ein Fehler bei der Interpretation der erhobenen Befunde stellt allerdings nur dann einen schweren Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und damit einen ‚groben‘ Diagnosefehler dar, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt. Wegen der bei Stellung einer Diagnose nicht seltenen Unsicherheiten muss die Schwelle, von der ab ein Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen ist, der dann zu einer Belastung der Behandlungsseite mit dem Risiko der Unaufklärbarkeit des weiteren Ursachenverlaufs führen kann, hoch angesetzt werden.“ (BGH, Urteil vom 21.12.2010, Az. VI ZR 284/09)

Nur bei einem fundamentalen Irrtum kommt die Umkehr der Beweislast in Betracht. Diese Schwelle wird i. d. R. relativ hoch liegen, denn Voraussetzung ist, dass ein Sachverständiger die ärztliche Bewertung als schlicht unverständlich einstuft.

Fazit

Die Gerichte sind sehr zurückhaltend mit der Annahme eines Diagnosefehlers. Prozess entscheidend, gerade für Radiologen, ist die Abgrenzung zwischen einem

  • Diagnosefehler (Befundauswertungsfehler) und einem
  • Befunderhebungsfehler.

Wer ein Röntgenbild fehlerhaft auswertet, wird haftungsrechtlich privilegiert im Verhältnis zu demjenigen, der auf das Erheben notwendiger Befunde verzichtet, also das Röntgenbild gar nicht erst erstellt.

Da medizinische Befunde und Daten oftmals eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten zulassen, sind fehlerhafte Interpretationen möglich. Die Abgrenzung erfolgt danach, ob die Bewertung des Arztes noch vertretbar ist. Ist dieses der Fall, kommt lediglich ein u. U. nicht vorwerfbarer Diagnoseirrtum in Betracht. Gerade für Radiologen ist entscheidend, sorgfältig zu dokumentieren. Es muss nachvollziehbar sein, welche Erwägungen angestellt wurden, um zu einer Diagnose zu kommen. Gerade, wenn ein Sachverständiger beurteilen soll, ob eine getroffene Beurteilung noch vertretbar ist, kann er die Entscheidung nur anhand der Behandlungsdokumentation nachvollziehen.