Der Widerspruchsbescheid ist keine individuelle Beratung durch die Prüfstelle

von RA, FA für MedR Dr. Tobias Scholl-Eickmann und RA Benedikt Büchling, Dortmund, www.kanzlei-am-aerztehaus.de

Dem Vertragsarzt muss im Rahmen der sogenannten individuellen Beratung nach § 106 Abs. 5e S. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V zumindest eine Beratung angeboten werden. Die Übermittlung des Widerspruchbescheids genügt insoweit nicht – es bedarf eines gesonderten Beratungsangebots (Sozialgericht [SG] München, Urteil vom 8.12.2015, Az. S 28 KA 1344/14 ).

Der Fall 

Die Prüfstelle Ärzte Bayern leitete gegen einen Allgemeinarzt eine erste Richtgrößenprüfung für Arzneimittel und Sprechstundenbedarf ein und setzte einen Regress fest. Auf den Widerspruch des Vertragsarztes wurde statt des Regresses eine Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V ausgesprochen, die zugleich mit der Zustellung des Widerspruchbescheids erfolgte.

Hiergegen klagte die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Bayern – nicht der Arzt selbst –, da nach ihrer Ansicht an eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V höhere Anforderungen zu stellen sind als an eine „schriftliche Beratung“ im Rahmen eines „Maßnahmenfestsetzungsbescheids“.

Hintergrund 

Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz wurde zum 1. Januar 2012 der Grundsatz „Beratung vor Regress“ eingeführt, d. h.: Bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent erfolgt zunächst eine individuelle Beratung. Ein Erstattungsanspruch gegen den betroffenen Vertragsarzt kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach dieser Beratung festgesetzt werden.

Beratungen werden grundsätzlich nur durch die jeweils zuständige Prüfstelle durchgeführt, es sei denn die Delegation der Beratung an eine andere Institution ist in der jeweiligen regionalen Prüfvereinbarung ausdrücklich erwähnt.

Die Entscheidung des SG München 

Das SG teilte die Ansicht der KV. Eine Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V könne nicht automatisch durch die Zustellung des die Beratung erstmalig festsetzenden Widerspruchsbescheids erfolgen. Zwar stehe der Prüfstelle hinsichtlich der Ausgestaltung der Beratung ein Ermessensspielraum zu. An eine individuelle Beratung seien jedoch grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen als an eine Beratung nach § 106 Abs. 1a i. V. mit Abs. 5a S. 1 und 2.

Zwar ließe sich argumentieren, dass auch eine im Rahmen eines Festsetzungsbescheids vorgenommene Beratung individuell ist, weil sie in einem eigenen Bescheid gegenüber einem einzelnen Adressaten erfolgt. Die Betonung der Individualität durch den Gesetzgeber spreche jedoch dafür, dass damit eine auf die speziellen Verhältnisse, insbesondere auf den speziellen Beratungsbedarf des Vertragsarztes gerichtete Beratung gemeint sei.

Sinn und Zweck der Einführung des § 106 Abs. 5e SGB V sei gewesen, Ärzte nach erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens nicht unmittelbar einem Regress auszusetzen. Vielmehr sei ihnen über eine eingehende „Beratung“ zumindest ohne finanzielle Konsequenzen für die Praxis die Möglichkeit zu geben, ihr Verordnungsverhalten bei Arznei-und Heilmitteln zu modifizieren. Dies könne ein Widerspruchsbescheid nicht leisten.

Stellungnahme 

Das Urteil konterkariert die in vielen KV-Regionen übliche Prüfpraxis und kann somit in einer Vielzahl von laufenden Prüfverfahren zugunsten der Ärzte angeführt werden. Die Entscheidung des SG ist die konsequente Umsetzung der gesetzgeberischen Vorgaben:

  • Regressbescheide stellen keine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V dar, denn sie zeigen dem Arzt nicht auf, weshalb seine Verordnungsweise unwirtschaftlich war und wie er dies zukünftig vermeiden kann.
  • Eine individuelle Beratung kann nicht durch die bloße Zustellung eines Widerspruchsbescheids bewirkt werden.
  • Gleichwohl muss die Beratung nicht zwingend im Rahmen eines Gesprächs erfolgen, sondern kann auch schriftlich stattfinden.