„Der Fortschritt in der Radiologie wird nicht ausreichend gewürdigt!“

Im Dezember 2019 verlieh die Radiological Society of North America (RSNA) Prof. Dr. Bernd Hamm in Chicago die Ehrenmitgliedschaft, die „RSNA Honorary Membership“. Der Direktor der Klinik für Radiologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin ist erst der vierte deutsche Radiologe, dem diese Ehre in den vergangenen 50 Jahren zuteil wurde. RSNA-Präsidentin Valerie Jackson würdigte ihn als „herausragenden Mentor, Forscher und Leader“. Seine Arbeit und Hingabe habe die Radiologie weltweit beeinflusst. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) sprach mit ihm.

Redaktion: Sie haben die Auszeichnung u. a. für die Etablierung von Forschungskooperationen in Deutschland und der ganzen Welt erhalten. Wie weit verzweigt sind diese Kooperationen?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Wir kooperieren weltweit. Z. B. in den USA mit Yale und der Harvard Medical School, in Japan mit Kyoto, in Südkorea mit Seoul, mit Singapur und in Peking mit der PUMC, sozusagen der Charité von China. Hinzu kommen viele europäische Institute. Allein das Forschungsprojekt zur kardialen Bildgebung von Prof. Dr. Marc Dewey hat weltweit 76 Partner in 22 Ländern.

Redaktion: Können Sie ein internationales Forschungsbeispiel nennen?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Ein ganz aktuelles Ergebnis ist, dass die nicht-invasive CT perfekt geeignet ist, um die koronare Herzkrankheit auszuschließen. Erst bei Patienten, deren Risiko einer KHK über 67 Prozent liegt, ist eine Koronarangiografie geeigneter. Wird dieses Ergebnis in die Kliniken überführt, reduziert das unnötige Herzkatheteruntersuchungen, die Strahlenexposition sowie die Krankenhausaufenthaltsdauer.

Redaktion: Die Radiologie in Deutschland ist technisch gut aufgestellt. Wo liegen die Vorteile internationaler Kooperationen?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Ziel aller Projekte ist der wissenschaftliche Austausch. Wir ergänzen unsere Kompetenzen. Ein sehr schönes Nebenprodukt ist der interkulturelle Austausch. Doch Radiologie ist viel mehr als Technik. Sie ist hochqualifizierte Diagnostik von Früherkennung wie der Mammographie bis hin zur minimalinvasiven bildgeführten Therapie. Es geht letztendlich um das medizinische Outcome.

Redaktion: Steht die Technik Ihrer Ansicht nach zu sehr im Vordergrund?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Die EBM-Reform 2020 hat die sprechenden Fächer aufgewertet und die technischen Fächer abgewertet. Doch wenn jemand sich beim Skifahren das Knie verdreht hat, können Sie es besprechen, so lange Sie wollen. Sie brauchen ein Bild. Der Fortschritt der Radiologie wird nicht ausreichend gewürdigt.

Redaktion: Nach Jahren der Globalisierung leben wir in einer Zeit der Abschottung. Macht sich das auch in der Radiologie bemerkbar?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Wir schotten uns in Deutschland mit dem Datenschutz zu sehr ab. Gerade die Firmen, mit denen wir kooperieren, finden den Datenschutz in Deutschland unglaublich. Die DS-GVO beispielsweise wird in anderen EU-Ländern deutlich flexibler interpretiert. Zwischen internationalen Institutionen haben wir keine Abschottungsprobleme, da dominieren der akademische Austausch und der liberale Geist. Hauptproblem ist der Datenschutz – so wie er derzeit gehandhabt wird.

Redaktion: Es wurden aber schon schlecht gesicherte PACS entdeckt.

Prof. Dr. Bernd Hamm: Manche Computer brauchen eine bessere Sicherheit. Zudem können Radiologen nicht wissen, was mit den Bildern geschieht, die sie ihren Patienten auf einer CD mitgeben. Es geht mir aber um etwas anderes. Der Datenschutz sollte eher praxisorientiert und liberaler ausgelegt werden. Wir wollen nicht gesetzeswidrig handeln, sondern gut kooperieren können.

Redaktion: Was können Radiologen aus Deutschland von Kollegen in anderen Ländern lernen?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Die genannten Kollegen sind alle auf einem hohen Niveau. Dennoch kann man immer von anderen lernen. Der eine hat eine besondere Patientenkohorte, der andere hat größere Datensätze. In China kommen in einer Woche so viele Daten zusammen wie bei uns in einem Jahr. Das ist z. B. der Vorteil der Zusammenarbeit mit den Chinesen. Wir sind in vielen Punkten beim Know-how weiter vorne.

Redaktion: Was gucken sich die anderen noch bei den Deutschen ab?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Die Chinesen gucken sich das Mentoring ab. Beim Heranführen des wissenschaftlichen Nachwuchses an das eigenständige Arbeiten können wir immer noch von den Amerikanern lernen.

Redaktion: Ein weiterer Grund für die Ehrung durch die RSNA ist die Erforschung neuer bildgebender Verfahren. Welche technischen Neuerungen werden auf Kliniken und Niederlassungen zukommen?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Die Künstliche Intelligenz (KI) wird für die Radiologie nicht disruptiv sein, wir werden nicht verdrängt werden. Denn wie in anderen Punkten auch sind wir bei der Digitalisierung Vorreiter. Wir haben schon lange computergestützte Diagnostik und digitale Bildnachbearbeitung. KI-Methoden wie Deep Learning werden uns weiter unterstützen und entlasten, wenn es z. B. um aufwendige und zeitraubende Untersuchungen wie Verlaufskontrollen bei Krebserkrankungen geht.

Redaktion: Wird KI denn für andere Fächer disruptiv?

Prof. Dr. Bernd Hamm: KI wird in der sprechenden Medizin zu signifikanten Veränderungen führen. Der Patient wird demnächst morgens von seinem Spiegel erfahren, dass seine Depression etwas stärker oder schwächer ausgeprägt ist als sonst. Dafür brauchen Psychiater wahrscheinlich mehrere Sitzungen.

Redaktion: Der technische Fortschritt hat auch das Ultrahochfeld-MRT hervorgebracht. Kommt das in die Praxen?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Das 7-Tesla-MRT ist vor allem ein Forschungsgerät. Das 3-Tesla kam schnell in die Kliniken, doch beim 7-Tesla erwarte ich das nicht. Für gute Diagnostik reicht ein 1,5- oder 3-Tesla-Gerät.

Redaktion: Erwarten Sie, dass die Patientenzahlen aufgrund der zusätzlichen diagnostischen Möglichkeiten weiter steigen werden?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Ja, auf jeden Fall, die Bildgebung wird zunehmen.

Redaktion: Das erfordert hohe Investitionen in Geräte und Software. Ist die Radiologie finanziell gut gerüstet?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Das hängt von der Erstattungssituation ab. Doch der zentrale Punkt sind Human Ressources. Haben wir demnächst genügend Radiologen und MTRAs? Wer jetzt in eine Praxis investiert, muss fürchten, wegen der Investitionsrisiken keinen Nachfolger zu finden.

Redaktion: Private-Equity-Gesellschaften würden sicher gern einspringen.

Prof. Dr. Bernd Hamm: Es stimmt, dass Investoren zurzeit lieber in Praxen einsteigen als bei der Bank Negativzinsen zu zahlen. Ich sehe diese Entwicklung sehr kritisch. Mittelfristig sind fremdgesteuerte Unternehmen nicht gut für unser Gesundheitssystem. In Großstädten mag sich die Praxiskette rechnen, doch was geschieht mit der Versorgung der Menschen auf dem Land? Außerdem sind die privat geführten Praxen für die Krankenversicherungen teurer, da sie mehr und besser abrechnen als arztgeführte Praxen. Kurz: HR und die Investitionsstruktur sind die großen Herausforderungen.

Redaktion: Wie bewerten Sie zurzeit die Kooperation zwischen Radiologen in Kliniken und Niederlassungen?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Ich sehe eine steigende Tendenz der Zusammenarbeit. Niederlassungen und Krankenhäuser bilden eine Notgemeinschaft, um die Geräte gut auszulasten. Eher rechne ich mit einer wachsenden Schere bei der radiologischen Versorgung zwischen Stadt und Land. Dort nehmen die Probleme zu. Doch auch dort hat die Digitalisierung ihre Vorteile: Teleradiologie und Fernbefundung können Engpässe auffangen. Wir machen beides für Krankenhäuser, bei denen nachts oder am Wochenende kein Radiologe vor Ort ist oder bei denen Radiologen fehlen, weil offene Stellen nicht besetzt sind.

Redaktion: Könnte der Expertenmangel der Radiologie insgesamt schaden?

Prof. Dr. Bernd Hamm: Das ist die dritte Herausforderung: Wir dürfen eine kritische Größe nicht unterschreiten, damit die Radiologie – sei es z. B. bei Gehirndiagnostik, Infektionen, Fehlbildungen, Rheuma, Krebs oder der Durchführung minimalinvasiver Therapien – weiterhin ein breites Expertenwissen vorhalten kann. Das betrifft Krankenhäuser und Praxen gleichermaßen. Es bedarf einer kritischen Größe, auch um uns gegenüber Interessen von außerhalb gut zu behaupten.