BGH-Urteil: Beim Mammografie-Screening sind sämtliche Unklarheiten zu beseitigen

von RA, FA für MedizinR Philip Christmann, Berlin/Heidelberg, christmann-law.de

Bei einer Brustuntersuchung zur Früherkennung einer Krebserkrankung soll ein Radiologe Auffälligkeiten (hier: eingezogene Brustwarze) zur Kenntnis nehmen und dann weitere fachlich gebotene diagnostische Maßnahmen einleiten. Da die eingezogene Brustwarze ein Anzeichen für Brustkrebs sein kann, hat er dann den Verdacht auf Brustkrebs diagnostisch abzuklären. Tut der Radiologe dies nicht und erkrankt die Frau an Brustkrebs, so ist dies ein fehlerhaftes Verhalten des Arztes, ein Befunderhebungsfehler. Der Arzt ist der Patientin deshalb zu Schadenersatz und Schmerzensgeld verpflichtet (Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 26.05.2020, Az. VI ZR 213/19 ).

Sachverhalt

Der beklagte und in einer Gemeinschaftspraxis tätige Radiologe untersuchte die Brüste der Klägerin (Mammografie-Screening) zunächst im Jahr 2010. Die Brüste waren dabei unauffällig.

Im Jahr 2012 untersuchte eine Frauenärztin die Klägerin zur Krebsvorsorge, ebenfalls ohne auffälligen Befund.

Die Klägerin ließ sich im April 2012 erneut vom beklagten Radiologen zur allgemeinen turnusmäßigen Krebsfrüherkennung untersuchen. Dabei gab sie gegenüber dem Radiologen an, die rechte Brustwarze sei seit ca. einem Jahr leicht eingezogen (sog. Retraktion der Mamille). Der Arzt bewertete die Brust als „normal“ (BIRADS 1 = Normalbefund) und teilte der Patientin mit, es bestünden keine Auffälligkeiten. Der eingezogenen Brustwarze ging der Radiologe nicht weiter nach.

Weil sich die rechte Brustwarze weiter einzog, ging die Patientin im Jahr 2014 zu einem Frauenarzt, der Brustkrebs diagnostizierte. Es folgten Operationen, bei denen Karzinome und Lymphknoten entfernt wurden. Die Patientin erhielt auch Bestrahlungen und eine Chemotherapie.

Die Patientin warf dem Radiologen vor, er habe seine Mammografie-Screenings fehlerhaft bewertet und erforderliche weitere Befunderhebungen unterlassen. Bei korrektem Vorgehen wäre der Brustkrebs in einem Stadium entdeckt und behandelt worden, in dem noch keine Lymphknoten befallen gewesen wären. Einer Chemotherapie hätte es dann nicht bedurft und die Anzahl der Bestrahlungen wäre geringer gewesen.

Das Landgericht hat die beklagte radiologische Praxis unter Abweisung der Klage im Übrigen gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines

  • Schmerzensgelds von 10.000 Euro und
  • zum Ersatz des materiellen Schadens in Höhe von 773,14 Euro zuzüglich Nebenkosten verurteilt.

Zudem wurde die Ersatzpflicht für künftige Schäden festgestellt. Die Berufung der Radiologiepraxis hat das Oberlandesgericht (OLG) zurückgewiesen. Die Praxis legte Revision beim BGH ein. Sie wandte unter anderem ein, der Radiologe hätte darauf vertrauen dürfen, dass die von der Klägerin angegebene Mamillenretraktion bei der 2012 bereits erfolgten Brustkrebsvorsorgeuntersuchung abgeklärt worden war.

Entscheidungsgründe

Der BGH bestätigte die Entscheidung des OLG, das einen Befunderhebungsfehler des Arztes bejaht hatte. Dabei nahm der BGH auf seine bisherige Rechtsprechung Bezug und führte zu dem vorliegenden Fall aus:

Auszug aus der BGH-Entscheidung

„Der für die Auswertung eines Befundes verantwortliche Arzt hat all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss. Diese Pflicht besteht erst recht dann, wenn, wie bei einem Mammografie-Screening, Zweck der Untersuchung die Früherkennung einer Krebserkrankung ist und es sich um eine im Rahmen der Anamnese nachgefragte und angegebene Auffälligkeit (hier: Mamillenretraktion) handelt, die auf eben eine solche Krebserkrankung hindeuten kann.“

 

Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens lag hier aus Sicht des BGH in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher (und nicht in dem Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Sicherstellung des Behandlungserfolgs = Aufklärungsfehler).

Der BGH verwarf auch den Einwand des beklagten Radiologen, der vorbehandelnde Arzt hätte (im Rahmen der sog. horizontalen Arbeitsteilung) die Mamillenretraktion abklären müssen. Der BGH verneinte schon eine Arbeitsteilung, weil die Frauenärztin kurativ behandelte, während die Radiologen zur Krebsfrüherkennung tätig wurden, und zwar ohne dass die Frauenärztin die Klägerin überwiesen hatte. Die Klägerin kam nämlich wegen einer allgemeinen turnusmäßigen Krebsfrüherkennungsuntersuchung zu dem Radiologen.

Praxistipp

Ist die medizinische Lage nicht eindeutig, sollte der Arzt im Zweifel weitere Diagnostik durchführen!

Im vorliegenden Fall lag keine eindeutige Situation vor, weil die Ursache der eingezogenen Brustwarze unklar war. Der Auftrag an den Arzt lautete auf Krebsfrüherkennung (Mammografie-Screening). Bei diesem Auftrag muss der Arzt die unklare Situation weiter aufklären. Denn eine eingezogene Brustwarze kann – wie der Gerichtssachverständige ausführte – auch eine Folge einer Brustkrebserkrankung sein.

Bei der Diagnostik gilt: Lieber zu viel als zu wenig. Wegen übermäßiger Diagnostik ist bisher noch kein Arzt bestraft worden (auch wenn es im Einzelfall dann zu abrechnungstechnischen Problemen kommen kann).