Aktuelles Urteil: Gewinner der Honorarreform müssen nicht für die Verlierer zahlen

von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Ronny Hildebrandt, Kanzlei Dierks+Bohle Rechtsanwälte, www.db-law.de

Wie jede Honorarreform hat auch die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Honorarreform Gewinner und Verlierer hervorgebracht. Dass die Gewinner den Verlierern etwas von ihrem Kuchen abgeben, damit es zu einem Ausgleich überproportionaler Honorarverluste kommt, geht dann aber doch zu weit, wie ein aktuelles Urteil des Sozial­gerichts (SG) Stuttgart vom 20. Dezember 2011 zeigt (Az: S 10 KA 4968/10). 

Hintergrund

Der Erweiterte Bewertungsausschuss hat mit Beschluss vom 27./28. August 2008 geregelt, dass – im Rahmen einer sogenannten „Konvergenzphase“ – KVen im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich befristete Ausgleichszahlungen an Arztpraxen leisten können, deren Honorar sich durch die Honorarreform um mehr als 15 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal verringert hat. 

Mit Beschluss vom 15. Januar 2009 hatte der Erweiterte Bewertungsausschuss sodann eine Regelung beschlossen, die dahingehend interpretiert werden konnte, dass sogenannte „Korridorlösungen“ zulässig sind, wonach Umsatzveränderungen, die sich oberhalb oder unterhalb des Korridors bewegen „ausgeglichen“ werden. Für Praxen, deren Umsatzveränderung den vereinbarten Korridor unterschreitet, hätte dies Ausgleichszahlungen und für Praxen, deren Umsatzveränderung den vereinbarten Korridor überschreitet, Kürzungen bedeutet. Und obwohl der Erweiterte Bewertungsausschuss die Regelungen zum Umsatzkorridor mit Beschluss vom 27. Februar 2009 wieder einkassiert hat, haben einige Gesamtvertragspartner in den ab 1. Januar 2009 geltenden Honorarverteilungsverträgen einen Korridor für zulässige Umsatzveränderungen vereinbart. Wurde dieser Korridor nach unten verlassen, wurden Ausgleichszahlungen gewährt. Überschreitungen des Korridors nach oben hingegen hatten Honorarkürzungen zur Folge. 

Das Urteil des SG Stuttgart

Dieser Praxis hat das SG Stuttgart jetzt im Bereich der KV Baden-Württemberg einen ­Riegel vor­geschoben und eine Regelung, die von den KVen zusammen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen getroffen wurde, untersagt: Ausgleichszahlungen an „Verliererpraxen“ dürfen nicht durch Kürzungen bei „Gewinnerpraxen“ gegenfinanziert werden. Den „Gewinnern“ zu nehmen, um den „Verlierern“ zu geben, ist nach Auffassung des Gerichts unzulässig. 

Der maßgebliche Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 27. Februar 2009 bilde keine hinreichende Rechtsgrundlage für die streit­gegenständlichen Honorarkürzungen bei den Gewinnerpraxen. Das Konvergenzverfahren diene dem Ziel, reformbedingte Honorarverluste in größerem Umfang abzuwenden. Honorarsteigerungen infolge der Neuordnung der Vergütung würden hingegen in diesem Beschluss überhaupt nicht thematisiert. Eine Regelung zur Vornahme von Honorarkürzungen existiere nicht. Honorar­kürzungen bei „Gewinnerpraxen“ dürften dementsprechend nicht vorgenommen werden. Dem stünde sowohl das Gebot der leistungsproportionalen Verteilung der Gesamtvergütung als auch der Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit entgegen. Dies gelte insbesondere dann, wenn die „Gewinnerpraxen“ einer pauschalen Kürzung unterzogen würden, ohne die Gründe für den Zuwachs zu berücksichtigen. So stünden zum Beispiel Honorarzuwächse in der Aufbauphase einer Anfängerpraxis oder aufgrund einer Praxisneuausrichtung in keinerlei Korrelation zu reformbedingten Honorarverlusten bei den sogenannten „Verliererpraxen“. 

Die Finanzierung der erforderlichen Geldmittel für Ausgleichszahlungen müsse stattdessen aus der Gesamtvergütung – also zulasten aller Vertragsärzte – aufgebracht werden. Hierfür seien Rückstellungen zu bilden. Dies war im Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 27. Februar 2009 auch genauso vorgesehen. 

Fazit

„Gewinnerpraxen“ müssen sich eine Kürzung der reformbedingten Honorarzuwächse nicht gefallen lassen. Sofern sie gegen die entsprechenden Honorarbescheide ab dem Quartal I/2009 Widerspruch eingelegt und gegebenenfalls geklagt haben, können sie auch noch im Widerspruchs- und Klageverfahren ergänzend auf die Rechtswidrigkeit entsprechender Kürzungen hinweisen. Da die Konvergenzphase bis Ende 2011 verlängert wurde, ist es außerdem wichtig, gegen die häufig noch ausstehenden Honorarbescheide für die Quartale III und IV/2011 Widerspruch einzulegen, sofern eine Kürzung der Honorarzuwächse infolge der Anwendung einer rechtswidrigen Korridorlösung erfolgt. Ärzte, die ihre Honorarbescheide bestandskräftig werden ließen, haben die Möglichkeit, gemäß § 44 Abs. 2 SGB X einen sogenannten Überprüfungsantrag zu stellen. Hier hat die zuständige KV jedoch einen weiten Ermessensspielraum, ob sie den rechtswidrigen, aber bestandskräftig gewordenen Honorarbescheid insoweit aufhebt und eine Nachvergütung zahlt. 

Praxistipp: Sollte sich die Honorarverteilungssystematik infolge der zum 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Regelungen des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes ändern und sollten beispielsweise Inpidualbudgets (wieder) eingeführt werden, die auf Grundlage der vertragsärztlichen Umsätze in dem Zeitraum 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2011 berechnet werden, ist zu befürchten, dass die Kürzungen infolge der (rechtswidrigen) Korridorlösungen in Zukunft fortgeschrieben werden. Auch hier empfiehlt es sich, Widerspruch gegen die Inpidualbudget-Zuweisungsbescheide einzulegen.