„Radiologen sind die Botschafter des Daten-Highways!“

„Radiologie in Transformation“ lautet das Motto des 105. Deutschen Röntgenkongresses (Röko) und des 10. Gemeinsamen Kongresses der Deutschen Röntgengesellschaft (DRG) und der Österreichischen Röntgengesellschaft (ÖRG). Das Präsidium wird in diesem Jahr von einer Doppelspitze gebildet: Prof. Dr. med. Johannes Wessling, Chefarzt und Leiter des Zentrums für Radiologie am Clemenshospital in Münster, sowie Univ.-Prof. Dr. med. Thomas Helbich, MSc, MBA und Stellvertretender Leiter der Univ.-Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin Wien, sind die beiden Kongresspräsidenten. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) sprach mit ihnen über ihr Fach im Wandel.

Redaktion: Die Radiologie ist von jeher ein innovatives Fach. Warum befindet sie sich ausgerechnet jetzt in einer Art Zeitenwende?

Prof. Wessling: Wir leben in bewegten Zeiten: Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI), Chat GPT und Retrieval Augmented Generation (RAG) faszinieren und fordern uns zugleich. Gesellschaftliche Veränderungen mit Generation Z, Fachkräftemangel, Remote Work etc. erfordern einen neuen Blick auf das Arbeiten von morgen.

Gesundheitspolitisch rütteln wiederum Krankenhausreform und Ambulantisierung an den Gesundheitsstrukturen in Deutschland. KI darf in diesem Kanon zu Recht als die wohl treibende und disruptive Kraft dieser Zeitenwende betrachtet werden.

Prof. Helbich: Die Radiologie ist innovativ und wird immer innovativer. Das Gesundheitssystem ist in einem Umbruch, noch nie gab es weltweit einen so dramatischen Personalmangel. Gleichzeitig lernen wir mit KI zu leben und sie zu verstehen.

Ich persönlich sehe darin die Chance, die Radiologie noch innovativer, präziser und kommunikativer zu machen und gleichzeitig den drastischen Personalmangel zu überbrücken: Reduktion der Arbeitsbelastung, integrierte Diagnostik mit hoher Präzision, das KI-Tumorboard und Cockpit-Lösungen sind nur einige Schlagworte.

Redaktion: Sie haben für den Röko 2024 die Themen Information, Kommunikation und Präzision als Wegmarken hin zu einer neuen Radiologie gesetzt. Zäumen wir das Pferd von hinten auf: Was umfasst die neue Radiologie?

Prof. Helbich: Wir bewegen uns von einer rein morphologischen Radiologie hin zu einer quantitativen Radiologie mit der Messung von metabolischen und funktionellen Vorgängen bis hin zu Radiomics. Mithilfe von KI können wir einen radiogenomischen Informationsfluss verwirklichen. Die Bilddaten werden mit pathologischen Daten inklusive epigenomischen Daten bzw. anderen diagnostischen Parametern aus der Labormedizin wie Blut, Flüssigkeitsanalysen bis hin zu „liquid biopsie“ kombiniert. Mit der Integration von allen drei Leistungen in einen Befund wird die Aussage exakter, schneller und personalisierter. Wir werden in der Beurteilung von „krank“ oder „nicht krank“ immer genauer, wir reduzieren falsch-positive Aussagen, wir werden Diagnosen und das therapeutische Ansprechen vorhersagen. Das ist gelebte integrierte Diagnostik mit hoher Präzision.

Prof. Wessling: Damit lösen wir uns immer mehr von der rein visuellen Bildbetrachtung. Wir schauen gewissermaßen durch das Bild hindurch und erschließen uns aus den Tiefen des Bildes Informationen, die wir mit dem bloßen Auge nicht erkennen. KI, Radiomics und Informationsexpertise ebnen der Radiologie den Weg zu einer personalisierten Präzisionsmedizin, allen voran in der Krebsmedizin. Wir sehen sie als Voraussetzung und Treiber einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Radiologie. Anders gesagt – Digitalisierung und KI sind Kernelemente der alten und neuen Radiologie.

Redaktion: Lassen Sie uns auf das Thema Information noch konkreter eingehen.

Prof. Wessling: Die Wahrheit steckt im Bild, aber eben nicht nur. Molekular- und epigenetische Daten sind ebenso wichtig wie pathologische und laborchemische Informationen.

Beispiel integrierte Onkologie: Die Kombination von Bild- und Informationsexpertise gibt uns Hinweise auf das biologische Tumorverhalten, erlaubt eine individuelle Risikostratifizierung und ist Grundlage für möglichst maßgeschneiderte Therapieentscheidungen. Kurz – Radiologie in Transformation wird „Imaging und Non-Imaging Phenotyping“ zusammenbringen. Diese duale Expertise in der Radiologie wird unser Fach von der reinen Diagnostik immer weiter in Richtung Therapieplanung und Patientenmanagement weiterentwickeln.

Redaktion: Geben Sie uns bitte ein Beispiel, wie Therapieentscheidungen durch nicht visualisierbare Informationen beeinflusst werden können.

Prof. Helbich: Derzeit orientieren wir uns an zwei, drei Informationen und vertrauen einzelnen Experten. Auf Aspekte wie Geschlecht und Ethnizität wird bisher wenig Rücksicht genommen. Beispiel Ethnizität: Bei Afroamerikanern ist bei manchen Erkrankungen die Mortalität wesentlich höher als bei weißen Amerikanern, weil auf besondere Merkmale keine Rücksicht genommen wird. In Zukunft werden wir hunderte Informationen verarbeiten, gespickt mit einem in der Sekunde abrufbaren globalen Expertenwissen.

Redaktion: Zum Thema Kommunikation sprechen Sie von der „Marktplatz-Radiologie“. Was ist das?

Prof. Helbich: Die neue Radiologie ist eine kommunikative Radiologie. Wir werden zum Ansprechpartner für jeden Patienten. KI wird helfen, die Arbeitsbelastung dramatisch zu senken, indem Normalbefunde mit einer hundertprozentigen Genauigkeit aussortiert werden. So können wir unsere Zeit für die schwierigen Fälle nutzen und erste Ansprechpartner für die Patienten sein. In meiner täglichen Praxis ist die verbale Übermittlung des Befunds ein integraler Bestandteil meines Tuns. Die Patienten schätzen diesen Service sehr, weil wir als Radiologen „Gatekeeper“ sind – sprich: Wir übernehmen eine wichtige Position im Entscheidungsprozess. Wir sind die Botschafter des Daten-Highways. Wir bringen „Smart News“ und keine „Fake News“, wie so viele Internetplattformen, die unsere Patienten verunsichern.

Redaktion: Nun steht die Radiologie nicht gerade im Ruf, ihre Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Paradigmenwechsel?

Prof. Wessling: Nein, ein Wahrnehmungsproblem. Der vermeintliche Paradigmenwechsel ist längst Teil der Versorgungsrealität. Klinische Radiologie heißt, dass wir uns um unsere Patienten kümmern. Stichwort „Patient-centered care“ – wir besprechen und erklären Bilder und Befunde. Wir begegnen Ängsten und Sorgen, wir sind Lotsen für den weiteren Behandlungsweg und wir behandeln Patienten. Wir können das, weil wir über Fachgrenzen hinweg agieren. Wir wollen das, weil unsere Patienten dies wünschen, einfordern und schätzen. Die Radiologie in fensterlosen Untergeschossen der Krankenhäuser oder Sackgassenendlage ist lange passé. Die sprechende Radiologie wird immer mehr das vitale Kommunikationszentrum im Krankenhaus. Wir sind Ansprechpartner für nahezu alle Fachdisziplinen und bringen diese in einer Vielzahl von Konferenzen in der Radiologie zusammen. Auf ihrem Marktplatz werden neue Informationen aus verschiedenen Quellen wie in einer Datenbibliothek zusammengetragen. Ein unglaublicher Wissens- und Datenpool und unabdingbar für eine personalisierte Versorgung im KI-Zeitalter.

Redaktion: Wie verändern sich das Rollenbild und das Selbstverständnis in der Radiologie vor dem Hintergrund der Transformation?

Prof. Helbich: Selbstbewusst, innovativ, kommunikativ, präzise – dieses Rollenbild gilt nicht nur für die Diagnostik, sondern auch für die Therapie. Die interventionelle Radiologie wird mit jedem Jahr minimal-invasiver. Wer hätte sich vor 20 Jahren gedacht, dass Radiologen geplatzte Gefäße mit Stents abdichten, Herzklappen einbauen, Karzinome mit Hitze oder Kälte erstarren lassen bzw. mit einem Nadelstich therapeutische Substanzen zielgerichtet applizieren?

Redaktion: Herr Prof. Wessling, Sie möchte ich mit den Worten „Röko 2024 ist diskutieren, kritisieren, austauschen“ aus dem Trailer zitieren. Wo erwarten Sie Kritik?

Prof. Wessling: Sicherlich sind wir als Vorreiter vieler digitaler Entwicklungen in der Medizin wie erfahrene Seefahrer mit den digitalen Weltmeeren vertraut. Doch wir sollten uns nicht allein auf Erfahrung verlassen, sondern auch das Schiff, auf dem wir sitzen, für die Zeitenwende rüsten. Es geht primär nicht um digitale Technik und KI, sondern vielmehr um strukturelle Veränderungen, die mit ihr einhergehen. Diese müssen wir antizipieren und kritisch hinterfragen. Wie und wohin verändern wir also unser Fach? Die Transformation von reiner Diagnostik hin zur Therapieplanung und Patientenmanagement ist dabei ebenso wichtig wie die breitgefächerte Durchführung minimal-invasiver Therapien durch den interventionellen Teil der Radiologie. Der Blick löst sich vom Bild und wendet sich unseren Patienten zu. Die richtige Bildgebung und Therapie zum richtigen Zeitpunkt für den richtigen Patienten – wir sind hier ganz im Sinne eines „Value-based imaging“ auch in Verantwortung, die Prozesse rund um unsere Patienten und im Sinne von Qualität, Effizienz und Sicherheit optimal zu gestalten.

Prof. Helbich: Value-based ist übrigens nicht nur monetär gemeint. Es geht um den Wert der Untersuchung für den Patienten. Also von „Volume zu Value-based“.

Prof. Wessling: Absolut. Schneller und einfacher Zugang zu Untersuchungsterminen ist dabei ebenso wichtig wie gute Informationen vor und nach der Untersuchung. Value-based bezieht die Patientenperspektive ein: Wurde ich gut aufgeklärt? Wurde mein Termin eingehalten? Um das zu leisten, wird KI enorm helfen.

Redaktion: Herr Prof. Helbich, Sie sagen im Trailer zum Röko, dass gute Radiologen die KI als Freund sehen. Was aber signalisieren Sie denjenigen, die der Transformation zurückhaltend gegenüberstehen?

Prof. Helbich: Es überleben nicht die stärksten, auch nicht die intelligentesten, sondern diejenigen, die bereit sind, sich zu verändern. Wer KI nicht akzeptiert, wird notgedrungen aussterben. Würde Charles Darwin heute noch leben, würde er genau diese Antwort geben.

Prof. Wessling: Wandel und Veränderung lösen immer Emotionen aus. Angst sollten und brauchen wir als Radiologen allerdings nicht haben. Wir nehmen seit vielen Jahren digitale Herausforderungen an und entwickeln uns mit und durch sie weiter. Die moderne Radiologie wird Treiber der Digitalisierung und des Transformationsprozesses in der Medizin sein.

Redaktion: Zum Schluss eine eher persönliche Frage: Sie teilen sich die Kongresspräsidentschaft. Was reizt Sie am Doppel?

Prof. Wessling: Unabhängig von unserer großen Sympathie füreinander: Es ist gerade in diesen Zeiten toll, dass der 105. Deutsche Röntgenkongress und der 10. Gemeinsame Kongress der DRG und der ÖRG zusammenfallen. Transformation erleben wir weltweit. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir in der Vorbereitung verschiedene Perspektiven und Ideen über Landesgrenzen hinweg austauschen konnten. Im Ergebnis haben wir ein sehr facettenreiches Programm für den Röko 2024 auf den Weg bringen können. Freuen Sie sich!

Prof. Helbich: Geteilte Leadership liegt voll im Trend. Die Doppelspitze ermöglicht Führungskräften, ihre unterschiedlichen Fähigkeiten, Stärken und Erfahrungen ins Unternehmen einzubringen und es zum Erfolg zu führen. Unser gemeinsames Unternehmen ist der Kongress. Und der wird sicher ein Erfolg!