Überschrittene Zeitprofile beweisen keine Falschabrechnung

von RA und FA für MedR Dr. Thomas Willaschek, Dierks + Bohle Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Berlin, www.db-law.de

Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) stellen die sachlich-rechnerische Richtigkeit der vertragsärztlichen Abrechnungen insbesondere durch Plausibilitätsprüfungen fest. Dabei sind Abrechnungsauffälligkeiten Indizien für eine Falschabrechnung. Doch die Überschreitung bloß geschätzter und nicht bedarfsplanerisch vorgegebener Zeitprofile kann keine Falschabrechnung bedeuten.

Diese Zeitprofile gelten 

Für jede ärztliche Leistung wird die Prüfzeit nach Anhang 3 zum EBM in sogenannte Zeitprofile (Tages- und Quartalsprofile) eingestellt. Richtlinien auf Bundesebene bestimmen für die Tages- bzw. Quartalsarbeitszeit „Auffälligkeitskriterien“. Die Grenzen liegen bei 780 Stunden im Quartal und bei 12 Stunden am Tag, wobei mindestens 3 Tagesprofile eines Quartals auffällig sein müssen (zu Plausibilitätsprüfungen bei Radiologen siehe RWF Nr. 12/2011; zu wissenschaftlichen Zahlen für Radiologen Institut-BA: Begleitstudie zum EBM 2008, S. 69 ff.).

Bei Überschreiten drohen Sanktionen 

Werden die in diesen Zeitprofilen definierten Grenzen überschritten, liegt eine „Abrechnungsauffälligkeit“ vor und es folgen weitere Prüfungen. Abrechnungsauffälligkeiten sind dabei Indizien für eine Falschabrechnung. Bestätigt sich eine Falschabrechnung, wird der Honorarbescheid sachlich-rechnerisch berichtigt. Außerdem liegt regelmäßig eine Pflichtverletzung vor, die im Rahmen eines Disziplinarverfahrens verfolgt werden kann. Bei Vorsatz steht der Vorwurf des Abrechnungsbetrugs im Raum.

WICHTIG | Ist das Verfahren erst einmal eröffnet, prüfen die KVen erfahrungsgemäß in alle Richtungen. Gerade häufig abgerechnete oder hoch vergütete Leistungen werden unter Hinzuziehung von Patientendokumentationen eingehend überprüft. Selbst wenn eine Praxis oder ein MVZ ohne jede Kürzung aus der Prüfung geht, bedeutet das ganze Verfahren jedenfalls einen großen Aufwand.

Das BSG hat Vorgaben aufgestellt 

Eine vertragsärztliche Quartalsabrechnung mit tausenden Einzelleistungen ist naturgemäß selten ohne jeden Fehler. Genau dies, die „peinlich genaue Abrechnung“, fordert aber das Bundessozialgericht (BSG). Die Abrechnungs-Sammelerklärung ist danach bereits unrichtig, wenn eine einzige abgerechnete Leistung nicht korrekt erbracht wurde. Bei entsprechender Prüftiefe, zumal bei größeren Leistungserbringern, lässt sich wohl stets eine falsch abgerechnete EBM-Ziffer finden.

Die bisherige BSG-Ansicht zu Zeitprofilen lässt sich nicht halten 

Bisher behandelte das BSG auch das Überschreiten von Zeitprofilen als „Abrechnungsauffälligkeit“, die eine vertiefte Prüfung nach sich zieht. Tagesprofilen könne ein Beweiswert zukommen, wenn die für die einzelnen ärztlichen Leistungen eingestellten Durchschnittszeiten so bemessen sind, „dass auch ein erfahrener, geübter und zügig arbeitender Arzt die Leistung im Durchschnitt in kürzerer Zeit schlechterdings nicht ordnungsgemäß und vollständig erbringen kann“. Aus derart angelegten Tagesprofilen erschien es dem BSG bisher unbedenklich, auf die Abrechnung nicht oder nicht ordnungsgemäß erbrachter Leistungen zu schließen.

Aktuell fehlt dieser BSG-Rechtsprechung jedoch die Grundlage. Denn die Prüfzeiten nach Anhang 3 zum EBM sind gerade nicht so bemessen, dass sie im Durchschnitt auch vom „Idealarzt“ nicht unterboten werden können. Tages- und Quartalsprofile auf Basis dieser Prüfzeiten können keine Indizien für eine Falschabrechnung sein, weil ihnen keine Erfahrungssätze, Erfahrungstatsachen, Denkgesetze und logischen Operationen zugrunde liegen.

Merke

Im Rahmen einer Expertise im Auftrag des GKV-Spitzenverbands wurde für die Kalkulationszeiten in Anhang 3 zum EBM eingeräumt: Diese wurden „im Rahmen von Expertengesprächen geschätzt und dann sämtlich normativ festgelegt. Systematische Zeiterhebungen wurden hierzu nicht durchgeführt.“

 

Es erscheint nicht abwegig, dass Experten den Zeitbedarf für einzelne EBM-Leistungen – als Grundlage der Vergütung dieser Leistungen – eher großzügig schätzen. Das Spannungsfeld lässt sich dabei nicht lösen:

  • Einerseits soll der in die Euro-Bewertung einer EBM-Leistung einfließende ärztliche Leistungsanteil in Minuten (= Kalkulationszeit) möglichst hoch angesetzt werden.
  • Andererseits soll die für dieselbe EBM-Leistung in die Zeitprofile eingestellte „Prüfzeit“ möglichst gering sein.

Reale Daten zeigen unrealistische EBM-Zeitprofile auf 

Im Ergebnis lassen sich verschiedene statistischen Befunde nur dahingehend deuten, dass die Kalkulations- und Prüfzeiten nach Anhang 3 zum EBM im Sinne der Anforderung der früheren BSG-Rechtsprechung erheblich zu hoch angesetzt sind:

So kam das Institut des Bewertungsausschusses bei Auswertung realer Abrechnungsdaten dazu, dass die auf Basis von Gesamtarbeitszeiten und abgerechneten Leistungen geschätzten Zeitbedarfe für die Leistungen deutlich geringer ausfallen als die Kalkulations- und Prüfzeiten nach Anhang 3 zum EBM.

Auch die Analyse der Kalkulationszeiten im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung zur Einführung des EBM 2008 ist aufschlussreich. Hier wurden für ausgewählte Fachgruppen (sehr hohe) Durchschnittsleistungsbedarfe anhand der abgerechneten Gebührenordnungspositionen des EBM für das Quartal III/2008 ermittelt, die heute von der tatsächlichen ärztlichen Wochenarbeitszeit deutlich unterschritten wird.

Beispiel

Von 519 orthopädischen Praxen rechnete ein Viertel eine Zeitsumme oberhalb von 933 Stunden ab. Das sind auf 13 Quartalswochen gemittelt knapp 72 Stunden pro Woche. Demgegenüber steht der KBV-Ärztemonitor 2014, nach dem die ärztliche Wochenarbeitszeit durchschnittlich 53,9 Stunden betrug, wobei auf privat- und vertragsärztliche Sprechstunden insgesamt 32,7 Stunden entfielen.

 

Zu berücksichtigen ist zudem das Produktivitätswachstum seit der Kalkulation des EBM: Eine Analyse der Prognos AG im Auftrag des GKV-Spitzenverbands unterstellt, dass Ärzte „den Aufwand bei der Leistungserbringung beispielsweise durch modernes Praxismanagement, leistungsfähigere Geräte oder durch die stärkere Einbindung nichtärztlicher Berufe jährlich um einen gewissen Prozentsatz“ senken. Für Berufsausübungsgemeinschaften und MVZ gilt als erwiesen, dass diese grundsätzlich eine wirtschaftlichere Leistungserstellung ermöglichen. Der Bewertungsausschuss ordnete 2012 insoweit konsequent u. a. die Überprüfung und ggf. Anpassung des Parameters „Leistungsbezogener Zeitbedarf“ beim EBM an.

Die Rechtsprechung hat aktuell noch nicht reagiert 

Bedenklich erscheint vor diesem Hintergrund die jüngere Rechtsprechung. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat beispielhaft und entgegen der oben dargestellten Erkenntnisse formuliert: „Die hierzu erforderlichen Zeitwerte (…) sind nunmehr in Anhang 3 zum EBM enthalten. (…) Die Prüfzeit, die im Rahmen der Plausibilitätsprüfung relevant ist, entspricht der Mindestzeit, die ein besonders geübter und/oder erfahrener Arzt zur Erbringung der betreffenden Leistung benötigt.“

Das BSG hat 2011 die Eignung von Tages- und Quartalsprofilen als Indizienbeweis für eine nicht ordnungsgemäße Abrechnung bestätigt. Dieser Beschluss bezog sich jedoch auf das Quartal II/2005 und nicht auf den EBM 2008. Zudem hat sich das BSG nicht damit auseinander gesetzt, ob die bisher geltenden Voraussetzungen für Zeitprofile überhaupt erfüllt waren.

Trotzdem hat sich auch das Hessische LSG in der neuesten Entscheidung zum Thema – betreffend Quartale aus 2005 bis 2007 – auf diesen Beschluss gestützt, indem es den Gestaltungsspielraum des Bewertungsausschusses hinsichtlich der Prüfzeiten nicht überschritten sah.

Das Gesetz steht versus das BSG 

Der Gesetzgeber selbst stützt mit dem Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) die hier vertretene Argumentation. Er fügte für die Plausibilitätsprüfung in § 106a Abs. 2 S. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) V den Halbsatz ein: „Vertragsärzte und angestellte Ärzte sind entsprechend des jeweiligen Versorgungsauftrags gleich zu behandeln“.

Damit soll ausgeschlossen sein, „dass angestellte Ärztinnen und Ärzte insbesondere in medizinischen Versorgungszentren bei den Plausibilitätsprüfungen pauschal benachteiligt werden“. Deshalb ist nun „geregelt, dass z. B. in Vollzeit tätige angestellte Ärzte und niedergelassene Vertragsärzte mit voller Zulassung entsprechend des Umfangs des jeweiligen Versorgungsauftrags bei den Zeitprofilen im Rahmen der Plausibilitätsprüfungen gleich zu behandeln sind“.

Diese Empfehlungen greifen für Sie 

Die „unglückliche“ neuere Rechtsprechung führt letztlich zu einer rechtswidrigen „zweiten“ Budgetierung durch die Prüfzeiten des EBM-Anhangs 3. Die Vertragsärzte achten mittlerweile praktisch durchgängig „peinlich genau“ darauf, durch Streichung von Leistungen die Zeitprofilgrenzen einzuhalten. Im Anhang 3 EBM haben faktische Vorgaben zur ärztlichen Honorarverteilung aber nichts zu suchen.

Die Aufgreifkriterien der (Plausibilitäts-)Prüfung sollen sich schon nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nicht an Empirie zu Arbeitszeiten (und im Übrigen auch nicht an den arbeitsrechtlich zulässigen Höchstarbeitszeiten für angestellte Ärzte), sondern an bedarfsplanerischen Messgrößen orientieren. Die Überschreitung bloß geschätzter Zeitprofile kann deshalb jedenfalls keine Indizwirkung für eine Falschabrechnung bedeuten.

Radiologen, die sich einem Vorwurf ausgesetzt sehen, sollten darauf achten, dass ihre Leistungserbringung z. B. anhand exakter Dokumentation nachvollziehbar ist. In der Prüfung selbst lohnt Detailarbeit: Tagesabläufe, die Zusammenarbeit in Praxis oder MVZ und die Delegation von Leistungsteilen müssen medizinisch-juristisch-statistisch aufgearbeitet und dargelegt werden. Wer belegen kann, dass er die abgerechneten Leistungen EBM-konform erbracht hat, wird keine Honorarkürzung erleiden.